Gregor war alleine im Wartezimmer. Scheinbar hatte er den letzten Termin vor Feierabend erwischt. Der Raum hatte keine Fenster. Gregor wusste nicht, ob ihn die Stille beruhigte oder nervös machte. Er hob seine Augen und starrte an die weiße Wand gegenüber. War er hier wirklich richtig?

Der 3. April. Gregors Freund Lukas feierte Geburtstag in einem Club. Es war ein lustiger Abend. Gegen vier Uhr machte sich der Freundeskreis auf den Heimweg. Gregor ging schon mal zu seinem Auto. Er hatte nichts getrunken. Dort wollte er auf drei Freunde warten und sie dann nach Hause bringen. Auf dem Parkplatz sah er eine Gruppe. Er erkannte in der Mitte der Menge eine Frau als er sich näherte. Sie hielt ihre Hand schützend vor ihr Gesicht. Mit der anderen versuchte sie die Hände der umstehenden Männer von ihrer Bluse fernzuhalten. Die Frau fing an zu schreien. Schnell begriff Gregor was die Männer mit der Frau vorhatten. Er ging auf die Clique zu. Die Männer wurden auf Gregor aufmerksam und drehten sich um. Sein Gang wurde immer schneller. Er rannte auf die Frau zu und zog sie aus der Mitte der Gruppe. Ob die Frau sich retten konnte wusste Gregor damals nicht. Auf ihn wurde eingeschlagen als er sich im Zentrum der Menge befand. Gregor fiel zu Boden. Dort trafen ihn weitere Schläge und Tritte. Wie viele, weiß er nicht mehr. Er wurde ohnmächtig.

Erst am nächsten Tag zur Mittagszeit wachte Gregor wieder auf – in einem Krankenhaus, mit starken Schmerzen im Gesicht. Kurze Zeit später berichtete ihm der behandelte Arzt von seinen Verletzungen. Ihn interessierte gar nicht wie es um ihn selbst stand. Viel mehr wollte er wissen, wie es der Frau ging. «Sie konnte sich in Sicherheit bringen», erzählte ihm später ein Polizist. Eine Freundin hatte in der Nacht die Polizei gerufen. Gregor müsse eine Aussage machen, wenn er das Krankenhaus verlasse. Ein paar Tage später fasste er den Mut und gab auf einem Polizeirevier das Erlebte zu Protokoll. Monate vergingen und es kam zu einem Gerichtstermin, bei dem zwei der Schläger verurteilt wurden. Gregor war nicht im Gerichtssaal – zu groß war die Angst.

Eigentlich hatte Gregor den Eindruck, er könne mit den bleibenden Verletzungen gut umgehen. Doch immer wieder machte sich seine Augenverletzung bemerkbar. Er hatte das Gefühl die eine Nacht langsam verarbeitet zu haben. Zumindestens redete er sich das ein. Auf der Straße machte er seither einen großen Bogen um Männergruppen – zur Sicherheit. Den Club der Geburtstagsfeier besuchte er nicht mehr. Ein Jahr verging. Gregor wachte immer wieder von Albträumen geplagt mitten in der Nacht auf. In seinen Träumen durchlebte er noch einmal die Gewalt gegen ihn: die Schläge, die Tritte. Sobald er aufwachte, untersuchte er seinen Körper nach Verletzungen. Da war nichts. Auch die Arbeit lenkte ihn nicht ab. Alles schien sich nur zu verschlimmern. Er war am Ende mit seinen Nerven. Er wollte doch nur der Frau helfen.

Dann fand er in seiner Schublade eine Visitenkarte, die er im Krankenhaus erhalten hatte. Von einer Beratungsstelle für Männer die Opfer von Gewalt wurden. Er überlegte lange ob er sich dort melden sollte. Nach außen wollte er stark wirken, nicht verletzlich. «Ein Mann regelt seine Probleme alleine» hatte er sich immer wieder eingeredet. Er überlegte lange. Schließlich schrieb er eine E-Mail und vereinbarte ein Treffen.

Nun war er gekommen: der Tag des Termins. Noch immer kreisten die Gedanken in seinem Kopf: Sollte er sich wirklich offenbaren? Was sollte er dem Berater erzählen? Wie kann ihm ein solches Gespräch helfen? Gregors Blick wanderte zur Eingangstür. Er überlegte wieder zu gehen. Während er noch zweifelte, öffnete sich eine andere Tür: «Herr Bernes, bitte!»