Aus datenschutzrechtlichen Gründen und zum Zweck der Anonymität wurden im folgenden Text die Namen aller handelnden Personen geändert.
Sarah sitzt in der ersten Reihe des Busses und trotzdem haben sie sie entdeckt. Toni und seine Clique. Sie reagiert nicht, sitzt weiter ruhig auf ihrem Platz und hofft, dass die Fahrt bald vorüber geht. Doch sie dauert ewig und die Rufe werden lauter und verletzender. «Du Hure!» «Du kleines Flittchen.»
Und die Fahrt geht noch immer weiter. «Wir halten, wir haben Probleme mit dem Bus, dies ist kein planmäßiger Halt, bitte steigen Sie alle aus.» Der Fahrer bringt den Bus kurz nach der Ortseinfahrt zum Stehen und öffnet die Türen. Sarah ruft ihren Vater an, er solle sie schnell holen kommen, weil der Bus nicht mehr fährt. Insgeheim hofft sie, dass er schon da wär, um sie von hier wegzubringen. Weg von Toni.
Aber er ist noch nicht da und Toni baut sich bereits vor ihr auf. Seine Freunde flankieren ihn, fühlen sich mächtig. Er brüllt Sarah an: «Was fällt dir Hure ein, mich anzuzeigen. Erst machst du dich an mich ran und dann so was! »Endlich kommt Sarahs Vater, bahnt sich einen Weg durch die halbstarken Jungen und die gaffenden Mädchen. Er packt Toni am T-Shirt. «Wenn du meiner Tochter noch einmal zu nahe kommst, überlebst du das nicht.» Er stößt Toni vor die Brust und dieser geht zu Boden. Seine Clique ist längst weg gerannt und auch er sucht nun das Weite.
Ich sitze mit Sarahs Vater auf einen Kaffee in der Küche. Seine Worte machen mich wütend. Ich kann immer noch nicht verstehen, wieso jeder Toni abnimmt, dass er das Opfer ist, obwohl es doch offensichtlich ist, was er getan hat. Scheinbar folgen ihm die Dorfmädchen bei allem was er macht. Es scheint als wäre er für sie unfehlbar. Sarahs Vater ist unglaublich wütend. So wütend wie heute, habe ich ihn noch nie erlebt. Wie muss ein Vater fühlen, dessen Kind so etwas erleben musste. Ein Kind das nach alledem auch noch als Lügnerin beschimpft wurde?
Sarah läuft über den Festplatz. Es ist schon dunkel und wirklich Lust zu feiern hat sie auch nicht. Sie ist nicht betrunken, fühlt sich allerdings ein bisschen schummrig. Sonja hat ihr ihre Wohnung angeboten, aber der Weg dorthin wirkt in der Dunkelheit unheimlich und die 500 Meter viel weiter als sie es wirklich waren. Sarah zieht den Reißverschluss ihrer Jacke weiter nach oben. Vom «Rekordsommer» ist nachts nicht mehr viel zu spüren. «Hey du!». Sarah zuckt zusammen. Toni steht ein paar Meter von ihr entfernt. War er ihr gefolgt? Viel zu tun hatte sie nie mit ihm gehabt. Er war einer dieser flüchtigen Bekannten, mit denen man nur Smalltalk führt, um lange Unterhaltungen zu vermeiden. «Wie geht’s dir? Ziemlich kalt oder?» fragt er. Immerhin ist sie so nicht allein und obwohl sie sich nie besonders gut verstanden haben, ist ihr das bedeutend lieber als allein den Weg bis zu Sonjas Wohnung zu laufen.
Der Griff an ihre Schultern kommt völlig unerwartet. Toni zieht Sarah hinter ein Auto und stößt sie gegen die Motorhaube. Sie prallt gegen das Metall und spürt einen Schmerz in der Leistengegend. Ohne etwas zu sagen drückt er sie auf die Motorhaube und küsst sie auf den Mund. Sarah ist so überrascht, sie kann nicht mal schreien. Er drückt sie weiter gegen die Motorhaube, sodass sie sich nicht wehren kann. Sie spürt wie er ihre Hose öffnet und sie in ihrem Schritt begrabscht. Sie schämt sich. Ekelt sich. Will einfach nur weg! Sie muss etwas tun. Nur was? Er ist kräftig, der Druck auf ihren Oberkörper ist zu stark. Er beugt sich wieder über sie, versucht sie zu küssen. Sarah bewegt ihren Kopf auf seinen zu, öffnet die Lippen. Er lächelt und tut es ihr gleich. Ihre Chance! So fest sie kann beißt sie zu. Toni schreckt zurück, lockert seinen Griff und Sarah reißt sich los. Endlich. Sie rennt zurück zum Fest. Sie muss unter Menschen kommen. Einfach nur weg von ihm.
Wir treffen uns bei Sarah. Mir kommt es entgegen, dass wir nur einen ruhigen Abend machen wollen. Die Kirchweihwoche ist nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Als ich die Treppe zu ihrem Zimmer hochgehe, kommt Sarah mir schon entgegen. Sie ist wie immer. Nichts kommt mir seltsam vor, bis wir in ihrem Zimmer sind und sie ganz still ist. Als sie sagt:
«Ich muss mit dir reden.»,
weiß ich schließlich, dass etwas nicht stimmt. Und dann erzählt sie mir alles. Ruhig, fast kühl und ohne große Emotionen. Ich habe einen Klos im Hals, weiß gar nicht was ich sagen soll. Ich spüre Mitleid und Wut zugleich, was noch stärker wird, als Sarah mir erzählt, dass es ein zweites Mädchen gibt. Auch das andere Mädchen hat Toni angepackt, doch konnte sie sich früher losreißen.
Sarah geht nervös durch die Tür. Hätte sie nicht ihren Vater bei ihr, der Gang durch die Tür zum Präsidium würde ihr noch viel länger vorkommen. Wahrscheinlich würde sie den Schritt in die Halle gar nicht wagen. Aber es ist wichtig, redet sie sich immer wieder ein, es ist das richtige, er ist der Täter. Sie werden in ein Zimmer gebeten um die Anzeige aufzunehmen. Als sie den Polizisten sieht, wird ihr übel. Alles nur das nicht! Sie hatte gewusst, dass Tonis Onkel bei der Polizei arbeitet, aber dass ausgerechnet er die Anzeige aufnehmen könnte, hatte sie die ganze Zeit über verdrängt. Doch jetzt steht er vor Ihnen und frägt, gegen wen sie Anzeige erstatten möchte. «Gegen ihren feigen, missratenen Arsch von einem Neffen», will sie fast sagen und dreht sich stattdessen verzweifelt zu ihrem Vater. Wie gut dass man sich auf dem Land kennt und ihr Vater Bescheid weiß. Sie bekommt einen anderen Polizisten und erzählt alles was sie weiß. Und nicht nur das.
Sarah erfährt auch, was Toni ihnen allen verheimlicht hat. Und das hat es in sich: Es ist nicht die erste Anzeige, die gegen ihn läuft. Von Drogen, über Schlägereien bis hin zur starken Körperverletzung ist alles dabei. Der Polizist ist freundlich und es tut gut sich den Frust von der Seele zu reden. Es wird gegen Toni ermittelt. Auch das andere Mädchen wird befragt, obwohl es nicht den Mut hatte, wie Sarah mit ins Präsidium zu kommen.
«Ich brauche dich nochmal, kannst du kommen?»
Das muss Sarah mir nicht zweimal sagen. Ich mache mir immer noch Sorgen, schließlich wollte sie lange keine Anzeige machen. Ich hoffe dass ihr Vater endlich zu ihr durchgedrungen ist und die Polizei etwas gegen das Arschloch unternehmen kann. Als sie mir alles erzählt, fällt mir ein kleiner Stein vom Herzen. Ich wünsche mir für Sarah, dass es zu einem ordentlichen Prozess kommt. Wie oft hört man von Mädchen, die begrabscht und angepöbelt werden und nichts dagegen unternehmen. Auf dem Dorf kann man das Gefühl bekommen von sexistischen asozialen Bauerntrampeln umgeben zu sein. Es wäre nur zu schön, wenn wenigstens einer von denen zu spüren bekommen würde, dass es Grenzen gibt, die auch in kilometerweiter Entfernung zur nächsten Stadt gelten. Grenzen die Toni klar überschritten hat. Und ich bete, dass er dafür zur Rechenschaft gezogen wird.
Und wieder klingelt ihr Handy nicht. Viermal hat Sie ihm schon geschrieben, dass er kommen soll. Wenn er sich ehrlich entschuldigte, würde Sie sogar die Anzeige fallen lassen. Doch ihre Nachrichten ignoriert er gekonnt. Eine wirklich ehrlich gemeinte Entschuldigung würde Ihr genügen, um ihm zu verzeihen. Seine Reue sehen. Toni hat nicht geantwortet. Auch eine Woche später nicht. Ich bin fast froh, dass er es nicht getan hat. Ich habe es nie verstanden, wie Sarah ihm nach einer Entschuldigung alles hätte verzeihen können. Aber es war klar, dass er sich nicht melden würde. Passt zu ihm, dass er nicht einmal dafür Manns genug ist.
«Ich bin froh dass die Anzeige bestehen bleibt und es hoffentlich bald zum Prozess kommt.»
Unruhig sitzt Sarah auf ihrem Platz, während nach und nach alle anderen Zeugen befragt werden. Ihre Eltern, die Mutter des anderen Opfers, das andere Mädchen. Es ist nur ein Prozesstag angesetzt. Sie hofft, dass es schnell vorbei geht. Sie vermeidet, ihn anzusehen. Die etlichen Chancen, die Sie ihm gegeben hat, hatte er allesamt verstreichen lassen. Doch ihre Nervosität vor der Aussage steigt immer weiter.
Schließlich wird sie aufgerufen. Ein Schauer zieht durch ihren ganzen Körper. Alles fühlt sich so schwer an. Alle Blicke auf Sie gerichtet. Sie erzählt die Geschichte erneut. Beantwortet die Fragen des Richters. Schaut dabei nicht ein einziges Mal in Tonis Richtung. Sie redet immer schneller und schneller. Will es nur noch hinter sich haben.
Sarah erzählt mir wie es gelaufen ist. Und ich kann es kaum glauben. Zwei Jahre. Allerdings nur auf Bewährung. Und das obwohl er schon auf Bewährung ist. Viel zu wenig! Die Sozialstunden machen das nicht annähernd wett. Und dann zeigt Sarah mir die heutige Zeitung. Jeder der in der Nähe wohnt und Sarah kennt, weiß nun Bescheid. Auch wenn sie es nicht ganz zugibt, merke ich wie sehr sie das ärgert. Der Artikel ist nicht lang und trotzdem kann man genau herauslesen, dass sie das Hauptopfer ist.
Jetzt, zwei Jahre später redet Sarah nicht mehr über die Ereignisse. Es ist wohl ihre Art, mit der Geschichte umzugehen – in dem sie versucht alles zu verdrängen. Aber ich kann nicht vergessen was damals passiert ist. Es hat uns zwar noch mehr zusammengeschweißt und ich bin froh, dass ich für sie da sein konnte, aber es hat auch Vertrauen zerstört. Und es hat uns gezeigt wie sich Gerüchte verbreiten und wie sehr sie verletzen können.