Ein kühler Nachmittag im März – null Grad. Frische Waldluft ruht über dem klammen Moos. Zwei Freunde brausen mit den Mountainbikes durch den Feierabend. Eine Abfahrt jagt die nächste – genau das Richtige nach einem langen Tag im Büro. Der 27. März 2013 ist für einen der beiden der Tag, der sein Leben für immer verändert hat.

Matthias Neubauer (22) ist ein dynamischer junger Mann aus der Nähe von Weiden in der Oberpfalz. Nach der mittleren Reife beginnt er eine Ausbildung als Industriekaufmann und paukt abends für die Fremdsprachenkorrespondenz der IHK in Englisch. In seiner Freizeit joggt er oder lässt es als Gitarrist mit seiner Rockband krachen. Mit den Jungs trifft er sich regelmäßig auf dem Sportplatz zum bolzen oder heizt mit dem Drahtesel durch die Wälder – stets auf der Suche nach der nächsten aufregenden Downhill-Strecke; ein Hobby, das viele Wald- und Tierschützer grollen lässt.

Garda Trentino: Idyllische Wälder und Felsenlandschaften zwischen Gardasee und den Dolomiten. Fahrrad-Abfahrten mit bis zu 2000 Höhenmetern warten auf Matthias und seine Freunde im Sommerurlaub. Höchste Zeit, für dieses anstrengende Abenteuer zu trainieren. Raus aus dem Sitzleder, umziehen und rauf auf`s Bike. Zum Aufwärmen noch lockern und dann richtig in die Pedale treten. Ein einziger Hügel beendet das Training.

«Wir sind mit über 30 km/h immer und immer wieder durch’s Gelände gefahren. Jedes Mal ein bisschen schneller.» Nach einer Landung auf dem gefrorenen Boden verliert Matthias die Kontrolle. Er stürzt. Das Rad knallt an einen Baum. Matthias fällt auf den Rücken. Er bricht sich den vierten und fünften Brustwirbel, die etwa in der Mitte des Brustkorbes sein Rückenmark durchtrennen. Volles Bewusstsein:

«Ich lag da und habe gedacht, ich schwebe auf einem Luftkissen einen Meter über dem Boden. Ich habe sofort gemerkt, dass ich meine Beine nicht mehr spüre.»

Ärzte der Unfallchirurgie im Klinikum Weiden operieren Matthias zwei Mal. Die Diagnose: Das Rückenmark ist komplett durchtrennt – Querschnittslähmung ab der Brust. Die Schäden irreparabel. In den ersten Nächten leidet er viel unter Phantomschmerzen und Alpträumen: «Nachts bin ich geistig in Dauerschleife den Berg hinunter.» Freunde und Familie schickt er weg. Er will seine Ruhe haben. Seine größte Sorge: Wie reagiert seine Freundin Silvia? Matthias verbringt viele Monate in der neurologischen Rehaklinik in Bayreuth.

Bedeutet Querschnittslähmung ab der Brust, man spürt nichts mehr und kann seine Beine nicht mehr bewegen? Ganz und gar nicht: «Man kann Querschnittslähmung nicht pauschalisieren. Jeder Patient weist andere Symptome auf. Die einzigen Einteilungen, die man treffen kann, sind: heilbar oder die Hoffnung, bestimmte Bewegungen wieder zu lernen.» Matthias wird nie wieder gehen können oder seine Beine spüren.

Fünf Tage nach dem Unfall postet er die Geschehnisse auf Facebook: «Ich komme vom Dorf und wollte Gerüchte sofort aus der Welt räumen.» Ein schlechter Scherz? Matthias stellt den Post am ersten April ins Netz. Für einfache Handlungen muss er sich abmühen. Er plant genau seine Nahrungsaufnahme. «Ich merke nicht, wenn ich auf’s Klo muss. Das nervt richtig!»

Was ist – eineinhalb Jahre nach dem Unfall – von der Sportskanone übrig geblieben? Knapp zehn Minuten braucht Matthias, um aus dem Auto auszusteigen. Wir gehen durch die Altstadt zu einem Café. Die Räder knattern auf den groben Pflastersteinen. Er will nicht geschoben werden. Selbstsicher bestellt er ein Augustiner Helles aus der Flasche und nimmt einen tiefen Schluck.

«Früher oder später musst du dich arrangieren. Du hast keine Wahl.»

Matthias spielt Rollstuhlbasketball beim BVS Weiden in der Oberliga Süd. «Ich weiß noch, ich habe oft gelacht, als ich Rolli-Basketball bei Paralympics geschaut habe. Das sieht von außen lustig aus.» Heute weiß er: «Allein schon den Ball drei Meter hoch zu werfen, ist harte Arbeit.» Bei seinem ersten Korberfolg wurde angestoßen. In seinem Team spielen Frauen und Männer. Es sind sogar Fußgänger dabei: «Das ist richtig gutes Training für den Oberkörper.»

Das Hardcore-Konzert der Band «Stick To Your Guns» in Cham erlebt er nicht auf einem Behindertenplatz. Er windet sich direkt vor die Bühne. Ein Fehler? Beim letzten Lied trifft ihn ein Stagediver mit dem Knie am Kopf. Das Ergebnis: Platzwunde. «Das war nicht schlimm. Wir haben danach gemeinsam ein Bier getrunken. Anderen geht es viel schlechter als mir.»

Neun Prozent der Deutschen sind schwerbehindert (Fokus 2014). Als schwerbehindert gelten Personen mit einem Behinderungsgrad über fünfzig Prozent. Matthias gehört zu denen, die ihr Schicksal akzeptiert haben und das Leben wieder lieben. «Meine Freundin hat mich nicht alleine gelassen. Sie sagt, es wäre genauso schön wie früher. Ich kann meinen Beruf weiter ausüben.», grinst er.

«Ich würde jederzeit wieder auf`s Rad steigen. Es kann immer was passieren.»

Das Handrad wartet schon zu Hause in der Garage auf ihn. Er hat aufgehört, sich über belegte Behindertenparkplätze oder gaffende Menschen zu verbittern. Mittlerweile kann er den Alltag fast alleine meistern. Einzig für Stufen braucht er fremde Hilfe. Matthias hat mit der Zeit gemerkt, sich früher oft über Nichtigkeiten geärgert zu haben: ein Pickel auf der Backe, ein langsamer Mensch an der Supermarkt-Kasse. «Gehen ist nicht alles!»