Es sind 20 jungen Frauen, die gemeinsam für «Amsterdamliebe» stehen. Eine von ihnen ist Vera. Die gebürtige Bayerin arbeitet als Stadtführerin in Amsterdam. Nach ihrem Tourismusstudium wollte sie noch einmal zu neuen Ufern, etwas Neues entdecken. Ursprünglichen wollte sie nur für vier Monate Touristen durch die Stadt führen. Mittlerweile arbeitet sie dort seit knapp zwei Jahren. Die populärste Führung ist die Tour durch das Rotlichtviertel in Amsterdam. Viele Außenstehende finden den Beruf als Sexarbeiterin unmoralisch.

Erklär doch bitte kurz was Amsterdamliebe ist?

Das Unternehmen wurde 2015 von Theresa Huber aus München gegründet. Mittlerweile arbeiten dort mit mir 19 andere junge Frauen. Wir organisieren die unterschiedlichsten Führungen durch die Stadt: von Food-Touren bis hin zu Führungen durch das jüdische Viertel. Wir stehen zusammen für das Projekt und teilen die gemeinsame Begeisterung, den Besuchern unser Amsterdam zu zeigen.

Wie bist du zu der Stelle gekommen?

Geschichte war nie so wirklich mein Steckenpferd, aber durch meine Leidenschaft zu Amsterdam wurde die Geschichte für mich erlebbar. Der Beruf war zunächst als Saisonarbeit ausgeschrieben für vier Monate. Damals ging es vor allem um die Rotlicht-Touren, die die meisten Menschen anziehen. Bei ihr sind auch weit mehr Frauen als Männer vertreten.

Ist es anders, wenn mehr Frauen vertreten sind?

Die Frauen gehen viel differenzierter an die Thematik der Sexarbeit ran als die Männer. Das Kritische soll in unseren Führungen auch klar rüberkommen. Denn das sind wir den Damen auch schuldig: Wenn wir da schon durchgehen, müssen wir erklären, was da im Viertel genau los ist.

Schätzungen sagen, dass die Hälfte der Frauen dort nicht freiwillig arbeitet. Ist das realistisch?

Wahrscheinlich sind es eher mehr, die Zahlen variieren extrem. Es gibt verschiedene Faktoren, die dazu zählen. In einem Artikel habe ich erst gelesen, dass aktuell 39 Personen im Amsterdamer Rotlichtviertel von Menschenhandel betroffen sind. Wahrscheinlich sind es aber viel mehr.

Muss man die Frage konkreter so stellen: Was zählt zu Zwangsarbeit?

Zählt Geld oder, besser gesagt, Perspektivlosigkeit schon als Zwang, dass sie hierherkommen und für jemand anderen Geld verdienen? Im Grunde genommen ist das Zuhälterei, die in den Niederlanden grundsätzlich verboten ist. Prostitution an sich ist legal. Das Extrem hier sind aber die Loverboys. Die zeigen die Damen nicht an, weil sie den Mann als Freund oder Mann sehen und nicht als Zuhälter, der sie zu dieser Arbeit zwingt. Und das ist im Grunde das Problem: Sie würden von sich aus nie sagen, dass sie gezwungen werden. Die von Menschenhand geleiteten Umstände lassen ihnen keine andere Wahl.

Kennst du eine Frau, die das bewusst für einen Loverboy macht?

Schwierig. Wenn man mit den Damen über dieses Thema spricht, müssten sie es sich selbst eingestehen. Sie schieben das vor sich weg und wollen nicht darüber sprechen. Wir sind mit einer Frau in Kontakt, nennen wir sie Maria, von der wir wissen, dass sie mit jemanden verheiratet ist, der selbst noch nie etwas gearbeitet hat. Sie ist letztendlich über familiäre Umstände zur Prostitution nach Amsterdam gekommen, weil ihre Schwester Geld gebraucht hat. Sie macht das Ganze jetzt seit acht Jahren.

Ist es für die Frauen üblich solange dort zu bleiben?

Im Schnitt arbeiten die Frauen dort fünfeinhalb Jahre. Es gibt schon auch Damen, die das länger machen und auf Grund des guten Geldes eine lange Zeit bleiben. Das ist wiederum ein weiterer Zwang, dass sie nicht wieder in einen anderen Beruf zurückwechseln, weil man dort weniger verdienen würde. Das wissen wir auch von einer anderen Frau, die nur wegen des Geldes bleibt. Nennen wir sie Claudia. Sie war eigentlich Studentin und wollte sich mit dieser Arbeit ihr Studium finanzieren. Das sollte eigentlich längst vorbei sein, sie arbeitet allerdings immer noch dort. Dahinter steht nach wie vor die Motivation Geld.

Was bekommt eine Dame im Schnitt pro Freier?

Die Damen haben ein Kartell gegründet und als Preisgrenze 50 Euro vereinbart. Von Maria haben wir erfahren, dass sie nie unter 180 Euro nimmt. Dieser große Unterschied tut mir dahingehend weh, dass die Damen dadurch in Klassen eingeteilt werden. Maria ist eine extrem hübsche Frau, die sich das leisten kann. Von ihr wissen wir auch, dass ihr Mann als Hobby in Afrika Großwild jagt und sie erst vor kurzem im Urlaub auf Bora Bora waren.

Was sind die Rahmenbedingungen in dem Geschäft?

Das Mindestalter ist 21 Jahre. Das will man jedoch nicht höher setzen, weil man den Weg in die Illegalität damit vorantreiben würde. Es hab auch eine Zeit lang ein Problem mit gefälschten Pässen. Wie soll man überprüfen, ob eine Frau 19 oder 21 Jahre alt ist? Eine weitere Anforderung ist die EU-Staatsbürgerschaft, damit das EU-Arbeitsrecht greift. Das ist die Grundlage dafür, damit das mit dem Gewerbeschein funktioniert: Den braucht man für die Handelskammer. Man beantragt ihn zusammen mit seiner neuen Staatsbürgerschaft, wird dadurch selbstständig und hat sein Ein-Frau-Unternehmen. Die Formalien sind damit abgehakt und man kann sich ein Fenster mieten, in dem man arbeitet.

Hat man in den Fenstern Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Frauen getroffen?

Es sind dort Notknöpfe installiert. Nach außen hin geht dann ein Alarm los. Ich habe es bis jetzt zum Glück nur zweimal mitbekommen und ich bin fast täglich dort. Die Präsenz der Polizei scheint auch ihren Teil beizutragen. Es bleibt trotzdem ein risikoreicher Job. Man lässt jemanden sehr nah an sich ran. Verbindungstüren zwischen den Fenstern sind da, um sich auszutauschen, aber auch aus Sicherheitsaspekten. Man hält zusammen.

Würdest du sagen, dass der Zusammenhalt vor dem Konkurrenzgedanken kommt?

Klar wollen die Damen zeigen, dass ein Mann zu ihr geht und nicht zu einer anderen. Aber im Endeffekt halten sie trotzdem zusammen, sollte es zu unsicheren Situationen kommen. Absprachen und Regeln sind da sehr wichtig, beispielsweise, dass alle Männer nur mit Kondom verkehren dürfen. Sie haben sozusagen ihren eigenen Kodex. Die Frauen sind auch nicht gezwungen, sich untersuchen zu lassen. Die Würde der Frauen soll nicht angetastet werden. Unter den Sexarbeiterinnen ist das Krankheitsrisiko sowieso sehr gering, da sich alle an die Regeln halten. Sie wollen ja selbst nicht krank werden, das würde zu einem monatelangem Berufsausfall führen würde. Die Statistik gibt ihnen da recht.

Monatelanger Ausfall. Gibt es viele Frauen, die wegen ihres Berufes schwanger geworden sind?

Von den Freiern eigentlich nicht, da die Frauen immer verhüten. Das Problem ist eher, dass sie selbst in einem kinderzeugungsfähigen Alter sind, aber nicht schwanger werden können, da sie in der Zeit keinen Verdienst haben. Es gibt zwar die Möglichkeit einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder einer Schwangerschaftsversicherung, das gleicht jedoch bei Weitem nicht das aus, was die Frauen sonst verdienen. Außerdem müssten sie noch eine weitere Person damit versorgen. Im Fall von Maria war es so, dass ihre Schwester Kinder hatte, für die der Vater nicht zahlen wollte und Maria sie mitversorgen musste. Diese Umstände führten dann dazu, dass sie es sich selbst nicht leisten konnte Kinder zu bekommen.

Haben die Frauen ein Problem privat eine Liebesbeziehung zu führen?

Den Frauen fällt das schon schwer, weil sie es, so weit es geht, als Arbeit sehen. Wenn man eine acht Stunden Schicht hat, will man ein Privatleben haben. Wir wissen, dass es im Viertel nicht um Liebe geht, trotzdem braucht der Mensch Liebe.

Ist ihre Arbeit als Prostituierte für die Frauen im Privatleben ein Problem?

Man kann sich kein Privatleben aufbauen. Im privaten Umfeld muss man wahrscheinlich ständig lügen. Nur wenige können es aussprechen, als was sie arbeiten und mit jemandem privat darüber reden. Teilweise ist es auch schwierig zu verheimlichen, wo das viele Geld nun herkommt.

Mit den Erfahrungen, die sie in Amsterdam gemacht haben: Ist der Stadtteil ihrer Meinung nach eher ein Viertel des Feminismus oder der Unmoral?

Dem Feminismus tut das schon weh, dass eine Frau dort ihren Körper verkaufen muss. Alice Schwarzer ist absolut gegen die Sexarbeit, die man ja auch eigentlich nicht will. An der Arbeit der Frauen selbst ist nichts unmoralisch. Ich meine das Geschäft gibt es schon, seit es die Menschheit gibt. Es zählt zu den ältesten Dienstleistungen. Von dem her ist daran nichts verwerflich. Was verwerflich ist und das tut wiederum aus feministischer Sicht weh, ist, dass überhaupt jemand seinen Körper verkaufen muss, weil er in einer Notsituation ist. Unmoralisch ist auch, unter welchen Umständen die Damen dort landen. Da zählen viele unbewusste Entscheidungen dazu und der Extremfall des Menschenhandels. Sexarbeit an sich wird immer Teil der Menschheit bleiben. Ich kann die Damen, die sich bewusst dafür entschieden haben, an einer Hand abzählen. Die Umstände sind das Unmoralische an diesem Beruf. Man tut zwar was dagegen, aber es ist die Nachfrage, die das Angebot bestimmt. Daher lässt sich der Feminismus in dieser Hinsicht nicht von der Unmoral trennen. Auch wir Guides haben da manchmal unsere Schwierigkeiten. Man kann das Viertel nicht immer ertragen. Manche haben aufgehört, weil sie die Umstände dort nicht länger ausgehalten haben. Keine andere Tour beschäftigt uns so viel wie die Rotlicht-Tour. Wir haben unseren Frieden damit geschlossen, dass wir darüber sprechen und das Thema kritisch beleuchten. Das sind wir den Damen im Viertel auch schuldig.

Was wünscht du dem Viertel für die Zukunft?

Im Rotlichtviertel speziell müssen die Regeln einfach besser eingehalten werden, damit man das Viertel bändigt. Etwas gegen die ganzen Ströme an Touristen zu unternehmen, ist vielleicht noch ein weiteres Anliegen. Allerdings darf man nie vergessen, dass dadurch viel Geld in die Stadt kommt. Davon lebt das kulturelle Angebot. Man muss die Massen etwas kanalisieren und versuchen sie aus dem Zentrum zu ziehen. Es ging schon mal in die richtige Richtung, als die Stadt die Genehmigungen für uns Guides eingeführt hat. Dabei wird unter anderem geregelt, dass wir nach 23 Uhr nicht in das Viertel dürfen oder die Gruppen nicht größer als 20 Personen sein sollen. Außerdem, dass die Besucher der Führungen mich anschauen und nicht die Damen im Viertel. Das finde ich sehr sinnvoll, da das dem Schutz der Damen dient. Das erzeugt trotzdem Hass, sowohl bei den Damen, die sich nicht als ganz ernst wahrgenommen fühlen, als auch bei den Anwohnern, deren Lebensqualität durch den Massentourismus schon deutlich eingeschränkt ist. Es sollte mehr Einvernehmen geben.

Wer hat die Macht im Viertel, die Stadt oder doch die Damen?

Die Stadt versucht die Macht zu haben. Sind es die Damen? Die Damen versuchen es zumindest. Dem entgegensetzen kann man aber, dass man den legalen Arbeitsweg eingeschränkt hat, indem man schon einige Fenster geschlossen hat. Nur, weil man das Viertel kleiner macht, wird die Nachfrage nicht unbedingt weniger. Die, die hinter den Damen stehen, haben hoffentlich nicht die Macht. Aber ich würde es so sehen, dass es einen gewissen Ausgleich zwischen den Damen und der Anwohnergemeinde gibt. Die Stadt kämpft dafür, dass Maßnahmen durchgesetzt werden, trotzdem stecken Geldwäsche und Illegales dahinter. Und auch das europaweite Netzwerk des Menschenhandels kann man als einen Strippenzieher sehen. Dadurch wird das Ganze eben zu genau diesem Sumpf. Es ziehen immer mehrere an einem Strang. Illegalität ist immer dabei. Auch wenn das in Amsterdam so legal scheint, kann man das trotzdem nicht ganz abstellen. Es bewegt sich alles in einer Grauzone. Die Entscheidungen in den nächsten Monaten und Jahren werden zeigen, wie sich das Rotlichtviertel weiter verändert und wie sich die Machtverhältnisse verschieben. Es wird ein spannender Prozess sein, bei dem es sicher auch Verlierer geben wird. Ich hoffe, dass das nicht die Damen sein werden.