Neutrinos in der Tiefsee: Für uns sind sie unsichtbar kleine Teilchen, für Physikpromovend Steffen Hallmann ein Geheimnis, das es zu erforschen gilt.
3500 Meter tief, absolute Dunkelheit, winzig kleine Teilchen in den Tiefen des Mittelmeers vor der südlichen Küste Siziliens. Für die Forschung Neutrions sind ideale Botenteilchen, denn sie sind nicht elektronisch geladen. So können sie im Gegensatz zu geladenen Kernen und Elektronen auf ihrem Weg nicht durch intergalaktische Magnetfelder abgelenkt. Neutrinos können sehr weit reisen, ohne absorbiert zu werden. «Wir sind also in der Lage nach sehr weit entfernten Quellen zu suchen und sogar ein Stück weit in diese hineinzusehen, wenn wir Neutrinos detektieren», erklärt der promovierende Physikstudent Steffen Hallmann von der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen, der Teil eines wissenschaftlichen Großprojekts ist, das Neutrinos erforscht. 2000 Kilometer davon entfernt sitzt er vor seinem Laptop in Erlangen. Per Fernzugriff von seinem Schreibtisch aus kontrolliert der 28-Jährige den Detektor. Der ist in einer Tiefe von 3500 Metern im Meer verankert und zeichnet dort die Ereignisse von Neutrinos auf. Gerade ist Detektorschicht: Eine Woche lang überwacht Hallmann mit seinem Kollegen die Datenaufnahme und steuert bei Problemen den Detektor manuell. Im Moment lässt der Promovend immer wieder Leuchtdioden kurz aufblinken, um so die verbauten Lichtsensoren Nanosekunden genau zu kalibrieren. Hallmann erklärt: «Das Modul über der Diode leuchtet hell auf. Aber selbst der Peak von weiter entfernten Modulen lässt sich in einem Zeithistogramm erahnen.»
Eine 700 Meter lange Detektorline auf zwei Seilen, aufrecht gehalten von einer Unterwasser-Boje: Alle 36 Meter ist ein Detektormodul angebracht, eine Glaskugel, die wiederum mit 31 Fotosensoren ausgestattet ist. Jeder Detektor zeichnet die Signale von Neutrinos auf. Neutrinos erreichen das Wasser in der Umgebung der Detektormodule aus verschiedenen Richtungen. Sehr selten treffen ein Neutrino und ein Wassermolekül aufeinander. «Kabumm» der 28-Jährige reißt die Hände auseinander. «Das Wassermolekül wird zerfetzt und es bildet sich ein Schwall an Sekundärteilchen. Diese bewegen sich schneller als Lichtgeschwindigkeit im Wasser fort. Die geladenen Teilchen erzeugen dabei ein bläuliches Licht, das sogenannte Tscherenkow-Licht. Es breitet sich kegelförmig im Wasser aus, ähnlich einem Überschallknall bei einem Flugzeug. Ein Teil von diesem Licht trifft dann auf die Sensoren.»
Neutrinos sind die häufigsten Teilchen im Universum und äußerst unscheinbar. Die meisten von ihnen fliegen problemlos durch die Erde, ohne dass irgendetwas mit ihnen passiert. «Es reicht nicht aus, einfach eine Badewanne im Keller aufzustellen. Wir brauchen ein extrem großes transparentes Medium, um eine Handvoll interessanter Neutrinokandidaten messen zu können» erklärt Hallmann. Derzeit arbeiten weltweit dreihundert Wissenschaftler der Kollaboration KM3NeT am Aufbau von insgesamt 230 Detektorlines, um zu entschlüsseln, wo höchstenergetischen Neutrinos entstehen.
Trotz 3500 Meter in der Tiefsee gelangt Untergrundstrahlung aus der Atmosphäre von oben an den Detektor. Sie machen die Teleskope sensitiver für Neutrino-Ereignisse, die den Detektor von unten erreichen. Die Analysen müssen optimiert werden, damit man den hohen Untergrund bestmöglich von den wenigen interessanten Ereignissen trennen kann. Hierfür schreibt Hallmann an einem Analysecode, den er an Simulationen testet. In regelmäßigen Abständen bespricht er sich europaweit mit anderen Forschungsmitgliedern über die Fortschritte und die weitere Vorgehensweise.
Störfaktor: Bakterien
Neben dem atmosphärischen Untergrund sind auch noch andere Lichtquellen in der Tiefsee zu finden. «Tiefseelebewesen setzen ihre Lichtorgane zum Angriff und zur Verteidigung, zur Nahrungsbeschaffung und zur Fortpflanzung ein» definiert Hallmann. Licht wird in diesem Wellenbereich im Wasser am schwächsten absorbiert, deswegen leuchten auch sie ähnlich wie das Tscherenkow-Licht. Der 28-Jährige ergänzt: «Tiefseelebewesen erschrecken ihre Mörder durch kurze Lichtimpulse, um anschließend die Flucht ergreifen zu können. Während man unter Nahrungsbeschaffung das Anlocken von Futter versteht, werden die Lichtorgane auch zum Anlocken von Partnern eingesetzt». Zusätzlich gibt es in der Tiefsee Bakterienkolonien, die unter Stress leuchten. Die Grundrate ergibt sich aus radioaktivem Zerfall und kleinen Bakterien. Der Untergrund ist dafür jedoch schlecht, da Neutrinolicht getrennt werden muss von radioaktivem Zerfall, Mikroorganismen und großen Lebewesen, die die Raten hochtreiben. «Aus diesem Grund möchten wir durch Detektoren eine gute Zeitauflösung und Messungen bereits kleinster Mengen an Licht erreichen» so Hallmann.
Ziel und Aussichten
Hallmann verdeutlicht: «Unser Ziel ist es, weit weg liegende Quellen zu beobachten und in sie hineinzusehen, um die Entstehungsprozesse von Neutrinos und die Beschleunigungsmechanismen in den Quellen besser zu verstehen. Um das zu tun, müssen wir genau wissen, welche Richtung, Zeit und Energie das gemessene Neutrino hatte.» Er erwähnt, sie befänden sich momentan am Anfang der Aufbauphase. Das heißt, es wird mit großem Aufwand daran gearbeitet, den Detektor bestmöglich zu verstehen und zu kalibrieren. Nur mit qualitativ hochwertigen Daten können später Analysen gewährleistet werden. Um 230 Lines aufbauen zu können, sind insgesamt rund hundert Millionen Euro nötig. «Auch wenn es zunächst nach einer großen Menge an Geld klingt, ist es im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Großprojekten noch relativ günstig. Wir suchen nach Teilchen, die im Weltall beschleunigt wurden, wodurch wir uns einen künstlichen Teilchenbeschleuniger auf der Erde sparen» erklärt der 28-jährige Promovend. Zusätzlich können mit den Detektoren die Umgebungsparameter in der Tiefsee über viele Jahre hinweg kontinuierlich gemessen werden und liefern so wertvolle Daten für Tiefseebiologen, Ozeanografen oder Klimaforscher.
Antares und Icecube
KM3NeT ist nicht das erste Teleskop dieser Art. Das Vorgängerteleskop Antares liegt vor der französischen Mittlermeerküste und liefert seit zehn Jahren zuverlässig Daten. Am Südpol – im ewigen Eis der Antarktis – befindet sich das große Icecube-Neutrinoteleskop. Hier ist ein Kubikkilometer Eis mit Sensoren ausgestattet und weißt bereits den kosmischen Neutrinofluss nach. Das gilt als Hauptentdeckung, wobei die Quellen dazu noch nicht entschlüsselt werden konnten.
Weltweite Vernetzung mittels Quellen
«Wir möchten die inneren Prozesse, die Dynamik und Energieumwandlungen, die sich in den Quellen abspielen, genauer verstehen. Um das zu erreichen, geht man dazu über, dieselben Quellen mit unterschiedlichen Teleskopen zu betrachten.» Bei diesem neuen Forschungsbereich der Astronomie sind viele unterschiedliche Teleskope im Einsatz. Egal ob Neutrino-, Gamma-, Röntgen- oder Radioteleskope, alle richten sich auf dieselbe Quelle hin aus, sobald eine auffällige Aktivität registriert wird. Das erste Neutrinoereignis, das man in Verbindung mit einer Quelle gebracht hatte, ereignete sich vor einem Jahr bei Icecube. Es wurde ein Neutrino gemessen, das zeit- und ortsgleich mit einem Strahlungsausbruch eines supermassiven schwarzen Loches stattgefunden hat. Der Strahlungsausbruch konnte durch den Gammastrahlensatellit Fermi gemessen werden.
Neben Icecube am Südpol möchten Wissenschaftler auch ein großes Teleskop auf der nördlichen Halbkugel betreiben, damit man in das komplette Universum gut sehen kann. Auch Hallmann freut sich auf die Zukunft: «Ich bin auf den Tag gespannt, an dem ich eine Punktquelle von Neutrinos am Himmel ausmachen kann.»