«Aus der Zimmerwand kommt eine Gestalt!» – Heinrich sieht verstümmelte Menschen am Boden liegen, daneben kniet ein Mitbewohner und sticht grinsend auf ihn ein. Von der Decke hängen Leichen und verschiedene Stimmen sprechen zu ihm. «Heinrich lebt seit zehn Jahren hier im Wohnheim. Er ist schizophren», erzählt Corinna.

Corinna macht eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin in einem geschlossenen Wohnheim. Die Bewohner dort sind alle psychisch erkrankte Erwachsene, die allein kein geregeltes Leben führen können und verwahrlosen würden. «Paranoide Menschen, die an Verfolgungswahn leiden, Borderline, Depressionen – die meisten aber haben schizophrene Psychosen», erklärt Corinna. Oft kommen noch Suchterkrankungen dazu: Alkohol, Drogen, Selbstverletzungsdrang, Essstörungen oder Schnüffeln.

Die Patienten begingen schwere Straftaten wie Vergewaltigung oder Mord. Grund dafür sind ihre psychischen Erkrankungen. Es darf keiner abgewiesen werden. Auf Corinnas Station leben 13 Männer im Alter von 25 bis 80 Jahren. Pro Schicht sind zwei Vollzeitkräfte für die Bewohner da. Das Wohnheim ähnelt einem Krankenhaus. Es gibt eine Küche, die tagsüber geöffnet ist, Aufenthaltsräume und ein riesiges Gemeinschaftsbad mit einer Waschküche. Da fällt Corinna eine Konfrontation ein, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hat: Die Tür zur Waschküche muss immer geschlossen sein wegen gefährlichen Substanzen wie Waschmittel oder Desinfektionsmittel­. Der Bewohner Erich hat starke Zwänge, seine Vorgeschichte ist unbekannt und er selbst erzählt kaum etwas über sich. Er muss alles anfassen: Türknauf, Geländer, Blumentöpfe. Sein Tablett muss immer genau in einer Position an seinem Stammplatz im Speisesaal stehen. Was andere anfassen, kann er nicht mehr berühren. «Seine Tabletten sortiert er immer in einer bestimmten Reihenfolge und nach Farben, erst dann kann er sie einnehmen», sagt Corinna. An einem Nachmittag möchte er in das Badezimmer, das er nur über eine der Türen betreten kann. Erich besteht darauf, dass die Waschzimmertür offen sein muss, Corinna argumentiert dagegen. Während der Diskussion wird er sehr aggressiv und knallt schließlich die Tür vor ihrer Nase zu, sie konnte gerade noch ausweichen. Das Aggressionspotential auf der Station ist sehr hoch. Solche Situationen sind für Corinna Alltag geworden.

Ein Tag im Wohnheim

Morgens um 7.00 Uhr weckt Corinna gemeinsam mit ihrem Kollegen die Männer und verteilt die sorgfältig kontrollierten Medikamente. Dann steht Morgenhygiene an. «Manchmal haben sie natürlich keinen Bock, da hilft meist nur Bestechung mit Kippen», erzählt Corinna. Um 7.30 Uhr gibt es Frühstück. Der Speisewagen steht im Speisesaal, jeder erhält sein bestelltes Essen auf dem eigenen Tablett. Meistens schlingen die Bewohner das Essen sehr zügig hinunter. Rentner können ihren Tag frei einteilen – für die Anderen geht es zur Arbeitsbeschäftigungstherapie. Dort bastelt Corinna zum Beispiel gemeinsam mit den Bewohnern, sie falten Kisten für bekannte Firmen und fädeln Dochte in Kerzen. Für diese Arbeiten erhalten die Bewohner Geld oder noch wertvoller: mehr Freizeit. Nach dem Mittagessen gibt es andere Arbeitsbeschäftigungstherapien oder Freigang. Normalerweise hat jeder eineinhalb Stunden Ausgang, doch gibt es je nach Verhalten Sonderregelungen. Corinna erwähnt: «Wenn die Männer beim letzten Ausgang alkoholisiert oder verspätet zurückkamen, wird eine Sperre erteilt.» Bei jeder Rückkehr steht ein Alkoholtest an.

Corinna schmunzelt und erzählt von einer kleinen Berühmtheit in dem Wohnheim. Georg ist mittlerweile 80 Jahre alt und lebt seit einigen Jahren auf der Station. Als er noch jünger war fuhr er während seiner Freizeit gerne mit dem Zug in die nächstgelegene Stadt und verbrachte seinen Nachmittag in einer Kneipe. Mit gesteigertem Aggressionspotential und einigen Drinks intus wurde er von der angerückten die Polizei zum Gehen animiert. Doch Georg nervte die Beamten so lange, bis sie seine Rechnung zahlten und ihn zurück ins Wohnheim fuhren. Er war immer auf Provokation aus – pinkelte gerne mal vors Zimmer der Mitarbeiter oder in die Spülmaschine und schmiss sämtliche Blumentöpfe um. «Heute hat er schlimme Depressionen und ist stiller geworden», erzählt Corinna.

Den Nachmittag verbringt Corinna meist im Wohnheim mit den Patienten zusammen, die sich ihren Ausgang verbockt haben. Es werden verschiedene Aktivitäten wie zum Beispiel eine Kochgruppe angeboten: gemeinsames Einkaufen der Zutaten, Kochen und anschließendes Essen. Dann wird es für sie etwas ruhiger. Nach dem Abendessen gehen viele Bewohner früh ins Bett, lassen sich im Raucherbereich einräuchern, wenn sie ihre tägliche Zigarettenration schon aufgebraucht haben oder sehen fern. «Die Fernbedienung wird von uns Mitarbeitern ausgegeben, alles wird schriftlich und per Unterschrift festgehalten. Sonst würden die irgendwo gebunkert werden», sagt Corinna. Dann herrscht Nachtruhe, die nicht selten von manchen Bewohnern durch wildes Schreien unterbrochen wird.

Vorbereitung auf ein Leben danach

Corinna hilft den Männern sich auf ein Leben danach vorzubereiten. Fast jeden Tag kommen Reinigungskräfte in das Wohnheim. Doch freitags sind die Männer selbst für den Putzrundgang zuständig. Corinna erzählt: «Keiner der Bewohner ist freiwillig in dem Heim, alle müssen aufgrund eines richterlichen Beschlusses dort sein.» Manche zeigen das meistens recht deutlich: «Ihr sperrt mich ein, ihr Arschlöcher!» Viele haben Unverständnis, keine Krankheitseinsicht und fragen sich, wieso sie überhaupt dort sind. Selten sind einzelne Bewohner doch dankbar für die Unterstützung, die sie bekommen. Viele der Bewohner bleiben ihr restliches Leben dort. «Man darf niemanden die Hoffnung nehmen, dass sie nochmal frei leben werden. Sie bleiben hier im Heim, solange der jeweilige Beschluss es vorsieht. Dann wird ein neues Gutachten erstellt», sagt Corinna. «Manche werden auch entlassen. Nach einiger Zeit denken sie, alles ist wieder gut, hören auf, ihre Medikamente zu nehmen, und alles geht von vorne los.»

In Corinnas ersten Wochen im Wohnheim fühlte sie sich überhaupt nicht willkommen. Weil sie die neue Mitarbeiterin war, versuchten die Männer sie auszunutzen. «Diese Menschen sind ja nicht dumm, sie sind lediglich psychisch erkrankt und meist sehr intelligent», findet Corinna. Da gab es eine Situation mit Erich, der an Zwängen leidet: Er war zum Rauchen draußen auf dem Balkon und bat Corinna um einen leeren Blumenkübel von drinnen, um sich draufzusetzen. Corinna vergewisserte sich bei ihm, ob er den Kübel denn wirklich bekommen dürfe, was er schließlich bejahte. Später erfuhr sie von anderen Mitarbeitern, es sei ihm verboten worden, draußen zu sitzen, da er die Zigarettenstummel immer herumliegen ließ. Natürlich sprach sie daraufhin mit ihm. Erich lachte nur. Er wusste ganz genau, dass er Corinna angelogen hatte. Während des Versuchs ihm zu erklären, was er falsch gemacht hatte, entwickelte sich eine laute Diskussion. Der fast zwei Meter große Mann baute sich vor Corinna auf und trat den Kübel in ihre Richtung. «In solchen Situationen bekommt man schon ein mulmiges Gefühl. Wir haben alle ein Telefon mit Notfallknopf bei uns. Bei riskanten Bedrohungen können wir so Hilfe holen. Diese Situation ist allerdings nicht riskant genug, um den Knopf zu drücken», erzählt Corinna. Nachdem Erich sich beruhigte, kam er auf Corinna zu und entschuldigte sich: «Sie wissen schon, ist ja nichts gegen sie.»

Gut zu reden ist zwecklos

Aggressivität ist ein Dauerthema für Corinna. Nicht nur die Männer untereinander, sondern auch sich selbst gegenüber. Heinrich verstümmelte sich gerne selbst. Er schnitt sich den Bauch auf und steckte Stifte in die Wunde. Jetzt trägt er einen besonderen Anzug, den er nur mit Hilfe ablegen kann, damit so etwas nicht mehr passiert. Ein anderer Mitbewohner hegt einen Groll gegen einen anderen: «Ich schlag den tot!» Doch Corinna und ihre Kollegen wissen nicht, woher das kommt. Kleine Schlägereien und Tauschgeschäfte mit Zigaretten sind mittlerweile Alltagssituationen. Bei schlimmen aggressiven Schüben wird meist mit Medikamenten zur Deeskalation gearbeitet, gut zu reden bringt da meist nichts. Wenn gar nichts hilft, kommen die Bewohner auf ärztliche Anweisung in sogenannte Isolationszimmer. Bisher bekam Corinna erst einen Fall für solch ein Zimmer mit: Wilhelm. Sein Zimmer ist durch zwei Türen vom Flur abgetrennt, seine Möbelstücke sind alle aus Schaumstoff. Ab und zu kann es sein, dass er seine Möbel durchs Zimmer schmeißt. Um zu provozieren, uriniert er ins Zimmer, seine Bettwäsche versenkt er in der Toilette. Corinna findet, die Unberechenbarkeit sei das tückische an Wilhelm: «Im einen Moment ist Wilhelm total nett und fragt mich, ob wir Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, im Nächsten schlägt er sich gegen den Kopf und damit gegen die Wand oder zieht sich nackig aus und legt sich in den Flur.»

Die ganzen Geschichten klingen vielleicht verrückt, aber Corinna bemerkt trocken: «Am Anfang war alles sehr schockierend für mich, aber man gewöhnt sich an alles.» Es gibt auch ruhigere Tage im Wohnheim, nicht alle sind so chaotisch. Abgrenzung sei wichtig. Sie sieht nicht die Mörder oder Vergewaltiger in den Personen, sondern die Menschen in den jeweiligen Momenten selbst. «Es ist schwierig, mit der ständigen Aggressivität umzugehen und vor allem richtig zu handeln. Man kann es eigentlich nie ganz richtig machen. Oft können schon kleine, ganz normale Handlungen zu Ausrastern führen», gesteht Corinna. Doch ihr Ziel ist es, das Leben der Menschen im Wohnheim ein bisschen lebenswerter zu gestalten. Sie wird nicht nur herausgefordert, sondern lernt dabei auch viel Neues. «Mit einigen Bewohnern kann man wirklich gute und interessante Unterhaltungen führen. Das sind intelligente Menschen.» Corinna begegnet den Männern mit viel Respekt, sie wollen nicht wie Kinder behandelt werden, sondern ganz normal. Manchmal kommt dann auch Gutes zurück. Sie grinst: «Vielleicht darf ich dann mal die Tasse von Erich in die Spülmaschine stellen, ohne, dass er ausrastet. Da zählen die kleinen Dinge.»

Die Namen im Text sind abgeändert.