Hatte nicht jeder als Kind den Traum als Superstar auf einer großen Bühne zu stehen? Die meisten geben diesen Traum schnell auf, doch Sharon hat ihr Ziel klar vor Augen und ist auf dem besten Weg «ein Star zu werden».
Der Duft von frischem Popcorn liegt in der Luft, die gelben, roten und blauen Lichter leuchten, blinken, blitzen und aus den Lautsprechern kommt lautstark die typisch lustig, fröhliche Musik. Eine lange Schlange hat sich am Kassenwagen vor dem großen, blauen Zelt gebildet. Den Müttern, Vätern, aber vor allem den Kindern sieht man die Vorfreude auf die bevorstehende Vorstellung an. Für Sharon ist es ein Abend wie jeder andere. Von Kindesbeinen an ist die heute 20-Jährige mit dem Zirkus unterwegs. Egal ob Zirkus Krone, Medrano oder Carl Busch: Sharon stand schon in vielen bekannten und ausgezeichneten Manegen – aus Tradition, denn ihre Familie arbeitet seit mehr als 200 Jahren in diesem Metier. Ihr Vater ist mehrfach ausgezeichneter Weltrekordhalter im Jonglieren.
«Normalerweise machen das Jungs»
Doch sie schwingt seit ihrem achten Geburtstag Ringe, Bälle und Keulen in der Luft herum. Am Anfang trainierte sie ihr Großvater, heute bekommt die junge Dame mit den langen dunklen Haaren Tipps und Tricks von ihrem Vater. Er unterstützt sie damit ihr eine perfekte Show gelingt. Dazu gehört auch jede Menge Training: täglich übt Sharon Jonglieren, Räder schlagen und andere akrobatische Übungen, um ihre Aufführung weiter zu perfektionieren.
Zirkus aus Tradition
Sharon sitzt am frühen Nachmittag in ihrem kleinen, gemütlichen Wohnwagen. Auf dem Tisch ihrer Sitzecke stehen weiß blühende Rosen und an ihrem Schrank hängt ihr Kostüm für die Abendvorstellung. Seit knapp sechs Monaten ist sie quer durch Deutschland unterwegs. Mit 200 anderen Künstlern reist sie noch einen weiteren Monat durch Schwaben, dann ist die Saison für sie vorbei. Für etwa eine Woche schlägt der Zirkus an einem Ort seine Zelte auf, dann gehts weiter. Jeder Zirkus ist wie ein kleines Dorf auf Rädern, alles hat seinen Wagen, hin und wieder gibt es sogar eine Schule.
«Manchmal gibt es einen kleinen Wagen mit einer Lehrerin, die dort alle Kinder der Zirkusfamilien unterrichtet – eine Schule auf Rädern.»
Meistens müssen die Kinder eine öffentliche Schule besuchen. Für Sharon ist es in dieser Zeit schwierig bleibende Freunde zu finden. Erst als ihre Familie nach Paris zieht und sie dort ihren Abschluss macht, kann Sharon festere Freundschaften knüpfen. Für einige Zirkuskinder ist es schwierig sich nach dem Schulabschluss zu entscheiden weiterhin im Zirkus aufzutreten oder eine klassische Ausbildung zu beginnen. «Bei manchen Eltern heißt es, du musst weiter machen, das ist Zirkusdynastie.» Sharon hatte diesen Druck nicht. Ihre Eltern überließen es ihr, den Zirkus oder eine andere berufliche Laufbahn zu wählen. «Ich fand die Arbeit toll und habe mich entschieden im Zirkus zu bleiben«, erzählt Sharon. Hilfreich war ihr dabei die Unterstützung ihrer Familie und die begeisterten Reaktionen des Publikums nach ihren Auftritten. Auch das Urteil der Fachjurys fällt positiv aus. 2010 gewann Sharon auf dem European Youth Circus Festival den Sonderpreis der Circus-, Varieté und Artistenfreunde Schweiz.
Zirkus einmal Backstage
Festivals sind eine wichtige Kontaktbörse für Zirkusartisten. Dort treten alle Arten von Künstlern und Artisten auf, um die Zirkusdirektoren von ihrem Können zu überzeugen. Sharon berichtet von einer starken Konkurrenz, die auf den Festivals herrscht. Auf den Artisten liegt während dieser Zeit ein hoher Druck, denn nur die Besten treten dort an und versuchen möglichst gute Arrangements zu erhalten. Gebucht werden die Künstler aber nicht nur durch Festivals. In Zeiten von YouTube, Vimeo und anderen Videoportalen müssen die Artisten selbst kreativ sein, sich möglichst interessant darstellen und eine beeindruckende Videoshow liefern. Klappt es einmal nicht mit einem Zirkusarrangement, können die Artisten ihr Programm auch in Varietés zeigen. Sie bleiben dann ein bis anderthalb Jahre an einem Ort und treten in einem Theater auf. Was bevorzugt Sharon? «Ich mag beides – für mich ist es eigentlich gleich –, aber im Varieté ist es besser, da ist man länger in einer kleinen Wohnung und das ist nicht so viel Stress.» Ihre Show dort unterscheidet sich nur wenig von dem, was sie im Zirkus aufführt. Ihre Nummer wird ständig weiter entwickelt. Immer wieder werden Kleinigkeiten verändert, entfernt oder hinzugefügt. Sharon entscheidet selbst, was sie macht und wie sie es macht. Auch die Reaktionen des Publikums helfen bei der Zusammenstellung des Programms. Wenn Sharon nach der Vorstellung zufällig Besucher trifft, wird sie oft für ihren Auftritt gelobt. «Manche Leute kritisieren auch viel», sagt Sharon. Sie wissen nicht, dass jeder im Zirkus täglich sein Bestes gibt und denken, Zirkusleute sind «Zigeuner».
«Wir machen unseren Job wie jeder andere auch. Wir wohnen nur nicht im Haus, sondern im Wagen und wir reisen oft.»
Sie vermutet, viele dieser Vorurteile kommen von kleineren Familienzirkussen, dort ist das Programm oft sehr einfach und eintönig. Oft sind dort auch Tradition und alte Regeln sehr wichtig. Beispielsweise gibt es «Zirkusregeln» die besagen, dass die Vorstellung abgebrochen werden muss, wenn ein Vogel im Zelt ist. Eine weitere verbietet einen offenen Schirm und ein grünes Kostüm im Zirkuszelt. Der Bruch dieser Regeln soll Unglück über die Zirkusgemeinschaft bringen. Die meisten dieser Regeln beruhen auf alten Geschichten und Legenden. Sharon erklärt: «Ich kenne viele Leute, die sich an diese Regeln halten, aber es kommt darauf an, ob der Direktor abergläubisch ist.» Sie glaubt auch, viele dieser Geschichten enthalten zumindest einen wahren Kern.
Zirkus: Die Show beginnt
Es ist 20:00 Uhr. Die Abendvorstellung beginnt wie immer pünktlich. Für Sharon heißt das, ab zum Schminken: Make-up auf die Wangen, etwas goldene Tusche auf die Wimpern und die Lippen durch den brombeerroten Lippenstift betonen. Dann dehnt sie ihren Rücken, streckt ihre Beine im Spagat und wärmt ihre Hüfte auf. Kurz vor ihrem Auftritt bereitet sie sich auch mental auf ihre Aufführung vor. «Manchmal ist man auch nervös», gesteht Sharon. Als sich der Vorhang öffnet und die 20-Jährige in die Manege tritt, vergisst sie alle Probleme und Gedanken des Alltags. Jeden Tag gibt sie alles, um eine perfekte Show abzuliefern: «Man muss da sein für die Leute.» Ihre Show ist eine Mischung aus Tanz, Akrobatik und Jonglieren. Einen langen Stab und den Hula-Hoop Reifen schwingt sie in einer unglaublichen Geschwindigkeit um ihren Körper. Drei, vier oder mehr Keulen jongliert Sharon in jeder Variation in den Zelthimmel. Das Publikum ist begeistert.
«Man fühlt sich wie ein kleiner Star»
Einmal wurde sie nach einer Nachmittagsshow in einer Pizzeria von Fremden angesprochen, die sie kurz zuvor noch im Zirkuszelt gesehen hatten. Nach einer kurzen Autogramm- und Fotosession, konnte Sharon wieder zurück zum Zirkus. Die Frage, ob sie beim Zirkus bleiben möchte, beantwortet Sharon mit einem überzeugten «Ja» – das Schöne an ihrer Aufgabe ist für sie die ständige Abwechslung. Sie ist ihr eigener Chef und kann selbst entscheiden, ob sie mehr tanzt oder jongliert. Den größten Spaß hat Sharon in der Manege. Dort fühlt sie sich frei, vergisst alles, was sie sonst im Alltag bedrückt und kann zeigen, was sie kann – und das immer mit einer prompten Reaktion. Ein Gefühl, das sie liebt. Ihre Manege, ein begeistertes Publikum und die Begegnungen nach den Shows. Damit hat sich für Sharon auch einer ihrer größten Träume erfüllt: ein Star zu werden.