Braucht man neue Möbel, geht man in ein Möbelhaus. Will man etwas Essen, geht man in ein Restaurant. Möchte man ein Erlebnis haben, geht man auf Reisen. Oder man geht zu IKEA.
Es war einmal ein kleiner Junge in einem gelb-blauen Land in der Nähe einer Autobahnausfahrt. Seine Augen leuchteten. «Jakob, komm, wir wollen weiter!», ruft seine Mutter liebevoll mahnend. Jakob steht voller Faszination vor dem für ihn unbezwingbaren Berg aus gelben Tüten und löst sich von diesem Anblick nur widerstrebend. Auf der anderen Seite des Raums entdeckt er ein Tor, das ihm eine bezaubernde neue Welt verspricht. Hinter dem Tor breitet sich ein riesiges, kunterbuntes, rauschendes Meer voller zauberhafter Geschichten aus. Kreischend vor Freude taucht er in die farbenfrohe Welt ein: hinein ins Bällebad. Es ist Samstag bei IKEA.
Eine Lebensphilosophie
Das Erlebnis beginnt auf dem von meterhohen gelben Lettern gekrönten Parkplatz des weltweiten Konzerns. Der IKEA-Besucher hat es gerade eben geschafft einen der begehrten Familienstellplätze auf der Parkfläche zu ergattern. Das Areal ist größer als 1600 Wohnzimmer. Wenn er Glück hat, begegnet er schon hier dem ersten der weltweit über 130 000 Mitarbeiter. Im gelben Polo-T-Shirt und in blauer Hose, sammelt er die Einkaufswägen ein und lässt sie wieder hinter dem Tor in der blauen Fassade verschwinden. Im richtigen Moment stehen sie dann wie durch Zauberhand genau da, wo der Kunde sie benötigt: in der SB-Halle, der Ort, an dem jeder seine Individualität entfalten kann. Der Kunde entscheidet, ob ein PAX-Schrank mit einem BILLY-Regal im Schlafzimmer kombiniert werden soll. Oder doch lieber mit einer MALM-Kommode? Jakob und seine Familie sind noch lange nicht so weit, sie stehen erst auf der Rolltreppe in den ersten Stock und lassen den Alltag hinter sich. «Wenn ich an IKEA denke, dann hab ich keine schlechten Assoziationen», meint Lisa. Entspannt und fröhlich sollen sich die Kunden im schwedischen Unternehmen fühlen, so will es Ingvar Kamprad, Chef und Gründer. Das Behaglichkeits-Image, das Plus an Lebensqualität und die zahlreichen urlaubsähnlichen Erlebnisse, mit denen man am Ende des Tages wieder nach Hause geht – das alles ist das Wesen der IKEA-Illusion.
Alles flauschig
«Es ist dieser Zuhause-Moment», sagt Fabi mit einem Lächeln auf seinem jungen Gesicht. Der silberne Kerzenständer, der hervorragend zu der Decke auf dem Sofa passt; das Kuscheltier, das das Kinderbett gemütlich macht; die Laptop-Attrappe, die die Räume bewohnt aussehen lässt. Diese Illusion des einzugsfertigen Zimmers, das sogenannte Interieur, erschaffen durch ein Team von Einrichtungsspezialisten. Sie gestalten die 50 bis 60 Zimmer, die es in jedem Einrichtungshaus zu sehen gibt. «Mit jedem neuen Zimmer wecken wir neue Träume. Ist das nicht traumhaft?», schwärmt Irina, Mitarbeiterin im Einrichtungsteam von IKEA Nürnberg / Fürth. Jakob ist schon voll und ganz in der IKEA-Welt angekommen, er spielt mit einem der Kuscheltiere, das auf den Betten liegt. Während der kleine Affe mit Jakobs Hilfe das MYDAL-Etagenbettgestell unsicher macht, greifen seine Eltern nach einem der schönen Bettbezüge, die auf dem Bett ausgestellt sind. Ein kleiner Trost, wenn man sich nicht das gesamte Bett leisten will. «Man findet immer etwas, wenn auch nur Teelichter für die Adventszeit», meint Sabine. Sie sitzt mit ihrer Freundin Linda im hauseigenen Café. «Ich gehe gerne einfach durch die Ausstellungsräume, um zu gucken und zu stöbern», fügt Linda hinzu. Robert sitzt ebenfalls im Café und trinkt Kaffee aus einer IKEA-Tasse der Kollektion 365+. «Ich finde es echt praktisch, dass man alles, was zur Küche gehört, vorher im Restaurant testen kann.» Hinter den Interieuren schließen sich jeweils die Kompakte an. Dort sind beispielsweise alle Sofas aus dem aktuellen Sortiment zum Testen und Vergleichen. Lockprodukte bringen die Besucher zuerst auf die Fläche; diese Produkte seien von geringer Qualität und billig hergestellt. Das behauptet Johann Stenebo, ehemaliger Manager bei IKEA und Autor des Buches «Die Wahrheit über IKEA – Ein Manager packt aus». Jakob ist begeistert: so viele Sofas! Am liebsten würde er sie alle testsitzen, doch seine Eltern sind schon um die nächste Kurve.
Wohnst du noch oder lebst du schon?
Ein Plus an Lebensqualität: jung, entspannt, modern, dynamisch. Das sind die Wiedererkennungsmerkmale des IKEA-Designs. Für jeden ist etwas dabei – schlicht für den Minimalisten, verspielt, für den Verträumten und robust für den Rustikalen. Jakob öffnet voller Neugier einen Apotheker-Schrank im französisch anmutenden Design: fabelhaft, was da alles reingeht! Und sein kleiner Affe passt auch noch mit hinein. Clever und kreativ stellt IKEA sein Design in den Werbespots dar. «Platz kann mehr» ist das Leitmotiv aller Produktreihen. Auch in einer kleinen Wohnung, einem noch so kleinen Zimmer lässt es sich komfortabel essen, schlafen und arbeiten. Die Design-Philosophie ist märchenhaft. Der Kunde kauft nicht einfach nur ein Bett oder eine Küchenzeile, er kauft eine magische Lösung. Zusammen mit dem «IKEA-Du» aus Werbeslogans wie «Das hast Du dir verdient», fördert das Design die Menschlichkeits-Illusion, die IKEA für den Kunden aufbaut. Auch wenn aus Kindern Jugendliche werden, wachsen die Möbel mit. Auf dem YouTube-Kanal IKEA-Deutschland sind zahlreiche nützliche Hinweise: Zimmer-Verwandlungen oder Do-it-Yourself-Anleitungen, um (zukünftig) vorhandene Möbel noch schöner zu gestalten. Interviews mit den IKEA-Designern sind ebenfalls zu sehen und bringen das Design dem Käufer näher. Stenebo erklärt in seinem Buch, das Unternehmen kopierte in den siebziger und achtziger Jahren Designprodukte bewusst von anderen Unternehmen und veränderte sie nur leicht. Heute sei die Zahl der kopierten Produkte etwas weniger geworden, allerdings seien solche Fabrikate immer noch ein Teil von IKEA. Jakobs Eltern stehen gerade in einer designten Küche und überlegen sich, welche Griffe sie am schönsten finden. Ziemlich langweilig, meint Jakob. Da, hinter der nächsten Ecke versteckt sich doch schon wieder etwas Neues!
Das traumhaft billige IKEA
Mit 215 Millionen Exemplaren ist der IKEA Katalog das Druckprodukt mit den weltweit meisten Auflagen. «Das ist das einzige Versprechen das IKEA dem Kunden gibt», sagt Stenebo. Das neue Sortiment ist seit August 2015 in der ganzen Welt in 42 Millionen Katalogen zu sehen. Dafür rode das Unternehmen ein ganzes Waldareal und der Holzbedarf steige von Jahr zu Jahr um 15 bis 20 Prozent, so Stenebo. «Nein Jakob, wir brauchen keine weiteren Bleistifte. Leg die wieder zurück, dann haben die anderen auch noch etwas davon!», ruft Jakobs Mutter ihm zu. Enttäuscht öffnet Jakob seine Hand voller kleiner IKEA-Bleistifte. Verstohlen schaut er zu seinen Eltern, steckt einen der Bleistifte in seine Hosentasche und fädelt die anderen wieder zurück. Über den Stiften hängt ein Schild: «IKEA unterstützt die Umwelt und nutzt nachhaltige Rohstoffe». Das Holz für die Möbel, Kataloge und Stifte kommt aus eigenen, nachhaltig angepflanzten Wäldern in Osteuropa. Um auch Kunden mit «schmalen Geldbeuteln» für IKEA zu gewinnen, wird in der gesamten Produktionskette darauf geachtet, die Kosten so gering wie möglich zu halten. Eine umstrittene Strategie ist es, in Niedriglohnländern zu produzieren und leitende Mitarbeiter aus Europa zum Beispiel nach China zu versetzen. Kamprad gehe es nicht darum «den Menschen zu zeigen, dass schöne Möbel billig sein können». Laut Stenebo will der Chef sich und allen anderen beweisen, dass das Unmögliche möglich ist. Von all dem bekommt der Kunde im Einrichtungshaus nichts mit. Um ihn während seines Einkaufs in eine entspannte, skandinavische Urlaubsatmosphäre zu versetzen, erhalten die Produkte schwedische, norwegische und finnische Orts- und Vornamen. Während der kleine Jakob von nordischen Ländern träumt, entscheiden sich seine Eltern für eine Yucca-Palme aus dem reichhaltigen Randsortiment. Solche ergänzenden Einrichtungsaccessoires runden das Erlebniseinkaufen ab. Für den Kunden birgt das den «Alles-mit-einem-Einkauf-Vorteil»; für IKEA ist es ein erhebliches Umsatzpotential, das bei IKEA bleibt.
IKEA statt Disneyland
Von all den neuen Eindrücken ist Jakob ziemlich hungrig geworden. Bevor er aber einen Hot-Dog oder im IKEA-Restaurant eine Portion Köttbullar verschlingen darf, muss er mit seiner Familie noch am Hochregallager vorbei und die neue Kommode abholen. Jakob ruft seinen Eltern zu: «Das ist ja Zauberei! Alle Möbel sind jetzt so flach! Das ist praktisch. Und wenn wir zu Hause sind und den Karton aufmachen, ist die Kommode dann wieder groß?» «Nein mein Schatz, die bauen wir dann zusammen auf. Das wird lustig!» Einige entdecken ihre Heimwerkerfreude dabei und sind am Ende stolz auf ihr Werk. Andere verzweifeln regelrecht an den vielen Schrauben und wieder anderen fehlt der kostenlose Aufbau-Service. Verspottende Sätze zu diesem Thema wie «Wohnst du schon, oder schraubst du noch?» sind im Internet zu lesen. In jedem Fall ist das eigenhändige Aufbauen ein Erlebnis, ob negativ oder positiv. Kamprads Grundprinzip ist einfach: Unternehmen und Kunde sparen durch den Aufbau und Transport durch den Kunden. Nachdem die Kommode auf dem Einkaufswagen platziert ist und Jakob obenauf sitzt, geht es zum nächsten Abenteuer. Neben den normalen Kassen gibt es Selbstbedienungskassen, an denen man die Produkte eigenständig einscannt und so selbst einmal Kassierer spielen darf. Das IKEA-Erlebnis geht noch weiter! Der Schwedenshop verleitet den Kunden, noch ein kulinarisches Stück Skandinavien einzupacken: schwedische Kekse, Cranberry-Saft und Köttbullar für zu Hause; Spezialitäten, die man sonst nicht so leicht bekommt. Manchmal reicht ein schneller, selbst garnierter Hot-Dog, der für viele zu einem IKEA-Besuch dazugehört. Wenn der Hunger größer ist, geht man ins Restaurant in der ersten Etage, in dem ganztägig ausgiebig gespeist werden kann. «Ich komme oft zum Frühstücken her. Ich wohne gleich um die Ecke», erzählt Peter. Ein paar Freunde sitzen in der Lounge zusammen. Es ist ein Dankesessen für die Umzugshilfe. «Unsere zwei Kinder haben wir im Kinderspielparadies geparkt. So haben wir jetzt gemütlich Zeit für unsere Freunde», meint Melanie. Eine kleinere, abgespeckte Variante des Kinderspielparadieses steht auch in der Mitte des Restaurants – gut für die Kinder, die noch zu klein für das Bällebad sind. Dass IKEA mehr als Einkaufen ist, zeigt das Unternehmen jedes Jahr mithilfe des Knut-Schlussverkaufes, der nach Weihnachten startet. Den schwedisch eingefärbten christlichen Brauch kommerziell ausnutzend, verkauft IKEA in dieser Zeit ihre Produkte zu Tiefpreisen. Am Ende des Knuts gewinnt man bei einem Weihnachtsbaum-Weitwurf-Wettbewerb Gutscheine für einen Weihnachtsbaum im nächsten Jahr – natürlich von IKEA.
Jakob, sein kleiner Affe, seine Eltern und die neue Kommode haben es inzwischen alle ins Auto geschafft. Der Ausflug ins kleine Schweden hat bei allen ein behagliches Gefühl hinterlassen, aber anstrengend war es schon ein bisschen mit den vielen Leuten. Auf dem Heimweg fragt Jakob müde seine Eltern: «Warum haben wir die Kommode nicht vom Schreiner bauen lassen?» Die Antwort hört er nicht mehr, denn er sinkt mit seinem kleinen Affen schon wieder in eine andere Traumwelt ein.