1600 v. Chr.: Bahri ist Fischer in einer Kleinstadt im Libanon und liefert Purpurschnecken an die Färberei. Als die Schnecken verschwinden muss er ein Verbrechen begehen, um seine Familie zu ernähren.
Das Geschäft lief schon lange schlecht. Wie jeden Morgen stand Bahri auf, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Wie jeden Morgen wanderte sein Blick durch sein bescheidenes Haus. Schlafzimmer und Küche waren nicht voneinander getrennt; ein paar Hühner scharrten im Boden auf der Suche nach Ungeziefer. Die ganze Familie schlief in dem kleinen Verschlag: seine drei Töchter, seine Frau und er. Die Sonne ging gerade auf, als Bahri das Haus verließ und die Tür hinter sich schloss. Sie war kaum mehr als ein dürftig gezimmerter Schutz, der das Wetter draußen halten sollte. Bis vor kurzem hatte ihr Haus eine bessere Tür, doch der letzte Sandsturm hatte sie fortgerissen. Nichts ungewöhnliches in der kleinen Küstenstadt. Der feine Sand wehte durch die Gasse, als sich Bahri auf den Weg zum Hafen machte, um sich seiner Flotte anzuschließen.
Der Seegang war ruhig. Die Morgensonne tauchte die sanften Wellen in ein mildes Orange. Sie waren zu fünft aus dem Hafen ausgelaufen. Das kleine, hölzerne Segelboot wogte leicht. Immer wieder warfen die Männer ihr Netz aus, nur um es wenig später mühsam einzuholen. Die Ausbeute war nicht der Rede wert. Sie kippten die wenigen Purpurschnecken in große Bastkörbe. Früher hatten sie am Abend oft zehn solcher Körbe gefüllt – bisher war es gerade ein halber. Also fuhren sie weiter hinaus und versuchten dort ihr Glück. Schweigsam verrichteten sie ihre Arbeit. Jeder von ihnen kannte die unausgesprochenen Gedanken der anderen; sie hatten alle dieselben: Wenn es so weiterging, würden sie ihre Familien nicht mehr ernähren können. Die Schnecken werden immer weniger, irgendwann sind sie ganz verschwunden. «Lasst uns zurückfahren», durchschnitt der Ruf seines Kollegen Amir Bahris Gedanken. «Mehr gibt es nicht zu holen.» Kurz darauf blähte sich das Segel und langsam schaukelte das Boot zurück in Richtung Hafen. Die Sonne hatte ihren Zenit schon lange überschritten.
Bahri bemerkte, wie seine Füße zitterten, als sie den festen Boden berührten. Schnell hatten sie die drei Körbe ausgeladen, die sie den Tag über gesammelt hatten. «Geht nach Hause», sagte er zu zwei seiner Kollegen, «damit werden wir auch so fertig.» Amir, Sabri und er nahmen sich je einen Korb und warfen ihn über die Schulter. Der Korb kam ihm leichter vor als sie es einstmalig waren. Spärlich beladen machten sie sich auf den Weg zur Färberei. Wortlos und in Gedanken versunken gingen die drei Männer nebeneinander her. Die lange Hauptgasse entlang, durch die kleinen Viertel, in denen Arbeiter wie sie mit ihren Familien wohnten. Die Frauen saßen am Wegesrand und verrichteten ihre Arbeit – kümmerten sich um die Kinder oder stopften Kleider. Einige kamen ihnen entgegen. Sie eilten zum Ufer, um das bisschen Kleidung zu waschen was sie besitzen. Manche von ihnen rangen sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln ab. Die Sonne knallte vom Himmel und niemand wollte gerne arbeiten. Am Ende der Straße bogen die Drei rechts ab. Jetzt gingen sie direkt auf das große Gebäude mit dem Innenhof zu. Es war aus Sandsteinblöcken gebaut, überzogen mit Lehm, wie fast alle wohl situierten Häuser der Stadt. Der große Torbogen war der Eingang zum Hof. Hier stellten sie ihre Körbe zu denen der anderen Fischereiflotten. Die meisten von ihnen waren nicht einmal bis oben gefüllt, stellte Bahri fest. Ihn ergriff die Angst. Er wusste, dass die ersten Flotten heute so weit hinaus gefahren waren wie nie zuvor. Trotzdem hatten sie so wenige Schnecken gefangen. So konnte es nicht weitergehen.
Bahri blickte einmal quer über den Hof. Überall herrschte reges Treiben. Die Stimmung glich der auf dem Basar, der am anderen Ende der Stadt stattfand. Er konnte zwei ältere Männer erkennen, die lautstark diskutierten. Einer von ihnen – augenscheinlich seiner befleckten Kleidung musste er wohl in der Färberei arbeiten – hielt die Qualität der Schnecken für minderwertig. Damit könne man nicht arbeiten, daran gehe er noch zugrunde. Die Beamten und Statthalter erwarteten schließlich ihre neue Bekleidung. Nur sie durften purpurne Kleidung tragen. Von den purprnen Schnecken. Lächerlich. Bahri konnte die hohen Beamten nicht leiden, sie hielten sich für etwas Besseres und das konnte er nicht ausstehen. Andererseits hätte er ohne ihre Arroganz und ihr Geld schon vor Jahren seinen Job verloren.
An der Mauer am anderen Ende des Hofes saß Tarek, der Schreiber. Bahri listete ihm auf, was sie ins Haus geschafft haben. Tariks Nicken widerspiegelte seine Ernüchterung. «Nur drei», murmelte Tarek, als ob er auf mehr Ware gefasst war. Noch bevor er antworten konnte, notierte er die Menge in seinem großen Buch. Auch Tarek wusste natürlich: das Geschäft für die Fischer geht zu Grunde. Das trieb den Preis in die Höhe, den die Färberei für die Stoffe verlangen konnte. «Hilf mir doch kurz die Körbe hineinzutragen», forderte Tarek Bahri auf. Er nahm also zwei Körbe über die Schulter; Tarek einen. Er folgte ihm durch einen kleinen Durchgang und zwei ausgeschürfte, steinerne Treppen hinauf in die Halle. Bahri sah den Raum zum ersten Mal. Hier wurden also die Stoffe gefärbt. Ringsum standen riesige Bottiche, gefüllt mit Flüssigkeiten in mehr Farben als sich Bahri vorstellen konnte. Für Bahri war sein ganzes Leben immer braun und vergilbt gewesen. Es gab große Fensteröffnungen, wahrscheinlich des furchtbaren Gestanks wegen.
«Hier hin!» Tarek deutete in eine Ecke des Raums. Dort stellten sie die Körbe ab. Auf dem Boden kniete eine gebrechliche Frau, die gerade neue purpurne Farbe ansetzte. In diesem Teil der Halle stank es bestialisch. Bahri verdränkte den Gedanken an die mit Urin vermischten Farben. Tarek und Bahri waren umgeben von purpurnen Stoffe. Zum Trocknen hingen sie an ellenlangen Leinen. Bahris Augen wurden immer größer. Einer dieser Stoffe wäre so viel wert, dass er nie wieder arbeiten müsste. Er bräuchte sich keine Sorgen mehr um seine Familie zu machen, wenn er nur ein kleines Stück davon verkaufen könnte. «Wie viel habt ihr mitgebracht?», richtete die Frau das Wort an Tarek ohne aufzusehen. «Nur drei Körbe. Das Meer ist überfischt, mehr ist nicht zu holen», erwiderte Tarek. «Wir werden sehen ob es reicht.» Die Frau saß weiter auf dem Boden und rührte eifrig in dem Gefäß. «Der Pharao will sein Schlafgemach in Purpur auskleiden. Dafür werde ich mehr brauchen als diese paar Schnecken.» Tarek versuchte, diplomatisch zu wirken: «Wir können ja auch nichts dafür. Aber wir werden sehen, was wir machen können. Ich werde anordnen, die Männer sollen morgen weiter hinaus geschickt werden.» Er zuckte mit den Schultern, drehte sich um und gab Bahri das Zeichen ihm hinauszufolgen.
Bahri bemühte sich unauffällig zu wirken. Doch er fühlte sich als wäre jeder seiner Schritte, die Art wie er sich umsah, verdächtig. Er fühlte den Stoff unter seinem Hemd. Während Tarek und die Frau sich unterhalten hatten, hatte er ein Stückchen von der Leine genommen und schnell unter sein Hemd geschoben. Kein Auge war auf ihn gerichtet – hoffte er. Während sie die Treppe hinuntergingen fühlte er sich wie ein Schwerverbrecher. Würde ihn jemand erwischen oder ihm das Tuch aus dem Hemd fallen wäre er geliefert. Es war ihm untersagt einen so wertvollen Stoff zu besitzen. Der Statthalter würde ihn hinrichten lassen. So war es schon öfter gewesen, er hatte es selbst gesehen. Es gab genug Arbeiter wie ihn, die um ihr Leben kämpften. Er musste es also geschickter anstellen und den Stoff schnell unter die Leute bringen. Alle seine Gedanken kreisten um diesen kleinen Fetzen, den er auf seiner Haut spüren konnte. Wie in Trance bewegte er sich hinter Tarek her; zurück über den Innenhof. Am Torbogen blieb er stehen. «Ich trage die restlichen Körbe hoch. Sind ja nicht recht schwer», lächelte Tarek bemüht. «Geh für heute nach Hause.» Tarek streckte ihm die rechte Hand hin. Bahri schüttelte sie, mit der linken hielt er den Stoff an seiner Taille fest.
Er war noch nie so schnell von der Färberei zu seinem Haus gegangen. Die Blicke in den Gassen hafteten an ihm. Er hielt sich die Seite als sei er verletzt. Das würde niemand für verdächtig halten. Nur noch die lange Gasse entlang, dann war er schon zu Hause. Zitternd öffnete er die Tür und huschte hinein. Ohne ein Wort zu seinen Kindern zu sagen ging er auf das Bett zu, holte den Stoff hervor und schob ihn unter sein Kopfkissen. Nur so lange, bis er sich ein besseres Versteck ausgedacht habe, dachte er. Völlig entkräftigt sank er auf sein Bett. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht. Nun waren alle Probleme aus der Welt geschafft. Wie wollte er den Stoff aber nun verkaufen ohne bemerkt zu werden? Auf den Markt konnte er damit nicht gehen. Nein, es musste unter der Hand passieren. Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Seine Töchter sahen ihn mit verwunderten Augen an.
Das Klopfen an ihrer maroden Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Bahri wurde kreidebleich. «Keinen Mucks», zischte er seine Familie an. Dann war es ruhig. Bahri schielte zur Tür. Er konnte Umrisse erkennen. Jemand musste davor stehen. Mit einem Schlag flog die Tür auf. Zwei bewaffnete Männer stürmten herein. Sie schoben Bahris Frau und die Kinder zur Seite und bauten sich vor ihm auf. Er konnte sie nicht ansehen, die Angst schoss ihm durch alle Glieder. Die Männer gingen zwei Schritte zur Seite. Zum Vorschein kam Tarek, die Hände mit eisernen Handschellen auf den Rücken gebunden. Beschämt hob er den Kopf. Bahri sah eine Träne über Tareks Wange laufen. Seine Augen schimmerten. «Ich… ich… es tut mir leid», flüsterte er. Dann packten sie Bahri und zogen ihn durch die Tür hinaus.