Stressiger Tag. Dax ist heute um drei Prozent gesunken. Meine Anlagen bei Siemens sollte ich verkaufen. Das Investment sollte ich auch wieder verkaufen. Gleich muss ich raus. Holzhausen Straße ist der nächste Halt.
Am U-Bahnhof hängen wieder irgendwelche Jugendlichen rum. Sind bestimmt schon voll. Ist erst zwanzig Uhr. So früh schon betrunken? So spät komme ich erst nach Hause? Damals war ich auch so. Ich weiß noch. Am letzten Schultag der zehnten Klasse war ich um drei Uhr nachmittags schon sternhagelvoll. Das waren Zeiten. Dann habe ich betrunken mit Sabine rumgeknutscht. Hab seitdem nichts mehr von ihr gehört. Hat jetzt bestimmt schon Kinder. Sie ist nach der Zehnten weggezogen. Das war mein allererster Kuss. Und der war betrunken. Alle guten Frauen sind längst verheiratet und haben Kinder. Ich habe die letzten zehn Jahre nur mit Wertpapieren gehandelt. Andere haben Häuser gebaut und Familien gegründet.
Das Velvet. Da haben wir früher immer rumgehangen nach den Vorlesungen. Edelschuppen. Damals wie heute nur BWL Studenten. Bin irgendwann während des Studiums mal ins Feinstaub. Richtiger Punk-Laden. Da war ich nur einmal. Alles voller Kunst-Studenten. Hab mir ja mal überlegt bildende Kunst zu studieren. Das Velvet sieht heute auch anders aus als damals.
Jetzt laufe ich durchs Holzhausenviertel, der Villengegend in Frankfurt. Hier wohne ich.
Nanu? Eine Katze. Die hat ein orange gestreiftes Fell. Wie die Katze von Winston Churchill. Im Haus von Churchill soll wohl noch heute eine orange getigerte Katze leben. Das hat er in seinem Testament so bestimmt. Hab letztes Jahr eine Filmbiographie über ihn gesehen. Unfassbarer Mensch. So eisern hat er für das gekämpft, was ihm wichtig war. Das Szenenbild war toll. Am liebsten hätte ich auch mal solche Requisiten gebaut. Ich habe nie für das gekämpft, was ich wirklich wollte. Im Mathe-Abi hatte ich ja ‘ne glatte Eins. Wenn ich als Broker nicht reich geworden wäre, würde Neuseeland an Schweden grenzen.
Jetzt streicht die Katze mir um die Füße. Ihr Fell ist sehr flauschig. Richtig kuschelig. Die würde sich bestimmt auch gern mal auf meinem Sofa an mich anschmiegen. Wie sie wohl heißt? Vielleicht Theresa, die Jagende. Oder Marie Claire.
Sie schnurrt. Also Marie Claire. Ihr Schnurren hört sich fast so an wie die Captain America. Das Motorrad, das Peter Fonda in Easy Rider gefahren ist. Ich war schon oft in Amerika. Hab aber nichts außer der Wall Street gesehen. Meistens Frankfurt – La Guaridia-Hotel in Manhatten – Wertpapierhandel – Hotel an der Wall-Street La Guardia – Frankfurt. Nie länger als fünf Tage. Hab nicht mal die Fifth Avenue gesehen. Wollte schon immer mal dahin, wo sie Taxi Driver gedreht haben. Oder nach New Mexico. Oder zu den Rocky Mountains. Oder dahin, wo Easy Rider entstanden ist. Naja, in Easy Rider sterben sie am Ende eh alle.
Marie Claire folgt mir auf Schritt und Tritt. Genauso bin ich damals Daniela auf dem Weg in den Clubkeller hinterhergelaufen. Hab mich dann nicht getraut sie anzusprechen. Jahre später hab ich erfahren, dass sie voll auf mich geflogen ist.
Jetzt bin ich an meiner Gartentür. Ich könnte sie mit reinnehmen. Das große Haus könnte ich auch mal teilen. Die Gänge hallen immer, wenn ich mit mir selbst spreche. Niemand sonst war bis jetzt in meinem Haus. Und ich könnte abends, wenn ich 3sat gucke, mit wem kuscheln.
Dann müsste ich immer Katzenfutter kaufen. Vielleicht bringt sie mir Mäuse ins Haus. Dann müsste ich Fallen kaufen. Weiß nicht einmal, wo es sowas gibt. Wahrscheinlich ist sie nicht mal stubenrein.
Ich sperr die Tür ab. Tut mir leid Winston-Churchill-Katze. Du hast bestimmt ein gutes Zuhause bei einer netten Familie. Vielleicht ja sogar bei Sabine. Oder Daniela. Ich gucke gleich noch etwas 3sat. Ich sollte heut früher ins Bett. Die Arbeit ruft morgen wieder. Der Dax sollte nicht noch mehr fallen.
Ich kann nicht schlafen. Vor meinem Fenster miaut es. Marie Claire. Sie soll aufhören. Einfach ignorieren. Das Miauen wird lauter. Egal. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Marie Claire springt aufs Fensterbrett. Selbstsicher tappst sie durchs Zimmer. Sie rollt sich auf meinem Bett ein.
Gute Nacht Marie Claire.