Florim Racovan und seine Brüder leiden als Asylanten unter Vorurteilen. Seine Liebe zum Schreiben bringt ihn in eine verhängnisvolle Situation. Ein alter Mann zeigt sich verständnisvoll und macht Florim ein Angebot – Fluch statt Segen für die Familie.
Asylbewerber – Seite eins. Thema Nummer eins. Alkohol, Randale, Polizei – damit verbinden sie uns. Immer das Schlechte. Keine akzentfreie Sprache, keine angemessene Kleidung, keine Akzeptanz.

Er schreibt. Dabei ist er erst sechs, die Schule hat er nie besucht, das Schreiben mit viel Geduld sich selbst beigebracht. Wir alle hier in der Siedlung kennen seine Geschichten – jede einzelne ein Meisterwerk. Das Manko: die Sprache – rumänisch. Ein kleines Heft ist sein wertvollster Besitz. Die Ränder gelbbraun, zerfleddert. Modriger Geruch. Dazu ein Bleistift – gerade so groß, dass er ihn noch halten kann. Die Kanten mit Zahnabdrücken verziert. Beides hat er immer bei sich. Bereit alles festzuhalten – hier und jetzt. Aufschreiben, wenn Worte fehlen. 38 Grad – Schulferien. Alle sind weg – Schwimmbad, Badesee, Urlaub. Unbezahlbar für uns. Leere Straßen, kaum ein Laut. Nur wir. Ein alter Lederball, beigegrau – unsere Hauptbeschäftigung an solchen Tagen. Wir schlendern durch die Straßen, den Ball vor uns her kickend, machen Witze, lachen. Florim schießt den Ball gegen einen Zaun. Sein Blick wird starr. Er bleibt stehen. Die anderen fordern ihn auf weiterzuspielen. Er winkt uns weg – deutet auf sein Heft.

»Wir lassen ihn zurück. Das kann dauern.«

Vor ihm ein riesiges Haus. Blumenbewachsener Garten. An der Wand lehnt ein Fahrrad. Mattbrauner Rahmen mit türkisblauer Federgabel. Im Lack ist Glitzer eingearbeitet – aus jedem Winkel glänzt es anders. Der Sattel ist aus dunklem Leder mit eingesticktem Logo. Eine Naht rot, die andere Orange – beide eng nebeneinander. Florim setzt sich. Lange blickt er das Rad durch den hölzernen Zaun an. Jedes Detail hält er in seinem Heft fest – fast jedes. Eine Sache fehlt – er weiß nicht, wie es sich anfühlt.

Fremd für ihn. Ein Blick links, ein schneller rechts. Sprung. Vorsichtig greift er den Lenker, steigt auf. Drei schnelle Tritte – keine Worte für dieses Gefühl. Ein Schrei. Der alte Mann von nebenan. Seine weißgrauen Haare bedecken nur noch einen Kranz seines Kopfes. Manche Strähnen stehen kreuz und quer. Die Haut hellrot leuchtend vor Wut, übersät mit Flecken. Unter seinen dicken, buschigen Brauen – der Blick starr und ernst. Florim wirft das Fahrrad hin. Die Hand schon am Gartenzaun, bereit zum Sprung. Beim Wort Polizei durchfährt es ihn. Er zögert. Zitternd wendet er sich dem Mann zu. «Bleib doch stehen Junge, denkst du, ich will dir etwas Böses? Wenn du das Rad einfach so liegen lässt, seid ihr doch gleich wieder die kriminellen Asylanten. Entschuldige dich bei den Hegers, dann will ich die Sache vergessen.» «Wie soll ich das machen, wenn niemand zu Hause ist?», fragt Florim. «Vielleicht», überlegt der Nachbar, «kaufst du einen Gutschein für die erste Kinovorstellung nächste Woche?» Florim vergewissert sich:

»Und dann sagen sie nichts der Polizei?«    

Der Mann nickt. Er habe sich doch schon immer ein solches Rad gewünscht, erklärt er unserer Mutter. Das Gefühl habe ihm noch gefehlt. Mama duldet solche Ausreden nicht. Von seinem hart ersparten Taschengeld muss er den Gutschein bezahlen. Davon hätte er sich selbst gerne ein richtiges Notizbuch gekauft. Tränen trüben seine Augen, als er die Karten mit der Entschuldigung abgibt. Frau Heger zeigt sich überrascht. Ein kleiner Junge, der solche Einsicht zeigt. Sie bedankt sich und streichelt ihm über den Kopf. Die erste Vorstellung im neuen Kino läuft an. Geräumige Säle. Großzügige Sitze mit eingestickten Nummern. Ein süßer Geruch breitet sich aus – frisches Popcorn. Alle sind gekommen. Nur der alte Mann fehlt – eine wichtige Angelegenheit meint er. Einbruch in der Weiherstrasse – Seite eins. Das komplette Haus der Hegers verwüstet. Geplante Vorgehensweise. Alles deutet auf eine ausländische Bande hin. Ein Zeuge hat alles beobachtet – graue Haare, roter Kopf, böser Blick. Der nette Nachbar.