Vor 30 Jahren endete mit der Wende der Kalte Krieg. Vor dem Mauerfall hatten DDR-Bürger die Möglichkeit, über Ungarn zu flüchten. Ines Völker flüchtete damals.

Der Sommer und der Herbst des Jahres 1989 waren für den europäischen Kontinent eine schicksalhafte Zeit. Innerhalb weniger Monate änderte sich die gesamte politische Ordnung. Es war der Grundstein für die Gründung der Europäischen Union und sollte für die Integration der osteuropäischen Staaten sein. Alles begann damit, als die ungarische Regierung den Grenzzaun nach Österreich entfernte. Während DDR-Bürger mit Visum nach Ungarn reisen konnten, öffnete sich für viele Ostdeutsche eine Fluchtmöglichkeit. Deshalb beschloss Ines, die Flucht zu wagen.

Du bist im Sommer 1989 gemeinsam mit deiner Schwester geflohen. Wie ist das denn genau verlaufen?

Die Flucht an sich verlief sehr abenteuerlich. Wir konnten uns nicht großartig vorbereiten. Wir haben für unseren Aufenthalt in Ungarn ein Urlaubsvisum beantragt. Deshalb mussten wir den Anschein erwecken, dass wir tatsächlich nur nach Ungarn fliegen würden, um dort Urlaub zu machen. Alles, was wir tun konnten, war das Visum zu beantragen und die Flüge nach Budapest sowie die Rückflüge zu buchen – obwohl wir nicht planten zurückzufliegen. Wir konnten keine Dokumente wie Zeugnisse mitnehmen – das hätte uns bei der Ausreise als Republikflüchtige verraten. Man konnte nur so viel mitnehmen wie für eine normale Urlaubsreise auch. In unser Vorhaben haben wir auch nur unsere Mutter eingeweiht. Nicht einmal unserem Bruder haben wir etwas erzählt. Damit wollten wir verhindern, dass er in Schwierigkeiten mit der Stasi geraten könnte. Am Flughafen in Leipzig durfte ich dann direkt zum Gate, während meine Schwester von der Stasi verhört wurde. Sie wurde erst kurz vor dem Boarding entlassen, weswegen wir unseren Flug nach Budapest nur im letzten Moment erreicht haben.

Gab es Momente, in denen die Flucht hätte schief gehen können?

Als meine Schwester am Flughafen von der Stasi gefilzt wurde. Wäre sie dort aufgeflogen, hätte man sie ins Gefängnis gesteckt. Am Gate ging mir sehr viel durch den Kopf. Alleine wäre ich nicht in das Flugzeug gestiegen. In Ungarn gab es zwar brenzlige Situationen, aber nichts, was die gesamte Flucht in Frage gestellt hätte.

Wie ging die Flucht dann weiter?

Mit der Landung in Budapest begann der improvisatorische Teil der Flucht. Den Verlauf ab der Landung in Budapest hätten wir auch nicht im Voraus planen können. Am Flughafen haben sich dann alle Republikflüchtigen zu erkennen gegeben. In Ungarn gab es ja keine Stasi mehr. Nach der Landung haben wir uns mit einem Pärchen und einem jungen Mann zusammengetan, um gemeinsam zu flüchten. Erst hatten wir den Plan zur bundesdeutschen Botschaft zu gehen, allerdings wurde uns hiervon von anderen Flüchtlingen abgeraten. Uns sagte man, die beste Möglichkeit sei zum Budapester Hauptbahnhof zu gelangen und einen Zug nach Wien zu besteigen. Mit den paar ungarischen Forint, die wir dabeihatten, kauften wir uns Nahverkehrstickets zum Bahnhof. Dort fuhr allerdings nur ein Zug nach Hegyeshalom an die österreichische Grenze.

Mit dem letzten Geld, das wir hatten, lösten wir die Fahrkarten und setzten uns in den Zug. Nachdem der Zug in Heygeshalom seine Endstation erreicht hatte, trennten wir uns kurz. Der junge Mann, das Pärchen, meine Schwester und ich – jeder suchte separat nach Möglichkeiten, die Grenze zu überqueren. Sobald jemand etwas herausgefunden hätte, sollte er die anderen informieren. Meine Schwester und ich konnten nichts in Erfahrung bringen, bis wir von dem Pärchen zu einem Zug nach Wien gerufen wurden, der zufälligerweise einen kurzen außerplanmäßigen Halt machte. Das Pärchen stand bereits am Bahngleis, der Zug war kurz davor abzufahren. Meine Schwester und ich rannten zum Bahngleis, um den Zug zu erwischen, und kurz nachdem wir einstiegen, fuhr dieser dann los nach Wien. Diesmal hatten wir keine Fahrkarten, und von dem jungen Mann fehlte jede Spur. Wir haben ihn an der Grenze zum letzten Mal gesehen. Danach kontrollierten die österreichischen Grenzbeamten nur kurz unsere Ausweise und ließen uns weiterfahren. In Wien wurden wir von Beamten in einen Zug nach Passau geschickt und kamen von dort aus in ein Auffanglager nach Deggendorf. Die Flucht war geschafft.

Ein Streik der Gewerkschaft Solidarnosc erwirkte eine Umsetzung ihrer 21 Forderungen. Die Danziger Leninwerft war hierfür im Jahr 1980 Schauplatz einer bis dato einmaligen Begebenheit im Warschauer Pakt: Ines war zu dem Zeitpunkt gerade einmal 13 Jahre alt, und hätte damals nicht zu träumen gewagt, dass sie durch den weiteren Verlauf dieser Entwicklung einmal in den Westen flüchten könnte. Die Staaten im Warschauer Pakt unterstanden der indirekten Kontrolle der Sowjetunion. Forderungen einer Organisation, die nicht Teil des Regierungsapparats war, wurden in Polen umgesetzt – eine ungewöhnliche Neuheit. Das war der Ursprung der Wende einige Jahre später.

Was hast du denn damals für das Leben im Westen aufgegeben?

Im Grunde genommen alles. Von vergleichsweise unwichtigen Sachen wie dem Beruf mal ganz abgesehen: Ich verließ die DDR in dem Wissen, alle meine Angehörigen, meine Freunde, meine Mutter, meinen Bruder nie wieder zu sehen. Vielleicht hätte man sich irgendwann im Urlaub in Ungarn wieder begegnen können, allerdings wäre dies nur sehr schwer möglich gewesen. Keiner ahnte damals, dass ein paar Wochen später der Eiserne Vorhang fallen würde.

Was waren die ersten Eindrücke der westlichen Welt auf dich?

Es war absolut überwältigend. Die Freiheit, die man auf einmal genoss. Die Produktvielfalt, die man auf einmal hatte. Für mich und meine Schwester war die erste Zeit in der BRD der totale Luxus, im Vergleich zum Leben in der DDR. Aber auch alles andere war total einprägsam: die schöne bayerische Landschaft, und auf einmal waren nicht mehr alle Häuserfassaden grau. Allerdings begannen wir mit der Ankunft in Deggendorf bei null. Abzusehen von den 100 Mark Begrüßungsgeld und den paar Sachen, mit denen wir gereist sind, hatten wir nichts. Wir mussten uns alles von Neuem aufbauen.

Noch im Juni 1989 wurde der Aufstand am Pekinger Platz des Himmlischen Friedens niedergeschlagen. Zwar war die Volksrepublik China kein Mitglied des Warschauer Pakts, aber man nahm an, dass die dortigen Regierungen mit ihren Aufständischen ähnlich verfahren werden. Wie viele andere Ostdeutsche auch, konnte Ines ihre Frustration nicht zum Ausdruck bringen. Deshalb, und weil es keine Aussicht auf Besserung der Lebensumstände in der DDR gab, sah sie in der DDR keine Zukunft für sich.

Wie hast du den Mauerfall erlebt?

Zu dem Zeitpunkt lebte ich in Buchloe im Allgäu und hatte als Flüchtling nur sehr wenig Geld, deswegen konnte ich den Mauerfall leider nur vom Fernsehbildschirm aus verfolgen. Im Grunde meinte ich die ganze Zeit zu träumen. Es konnte damals wirklich keiner ahnen, dass die Mauer tatsächlich einmal fallen würde, und ich war damals der totalen Überzeugung, dass sowjetische Panzer irgendwann die Montagsdemonstrationen gewaltsam zerschlagen würden – wie am 17. Juni 1953. Ich konnte das ganze Ereignis damals wirklich nicht verarbeiten. Aber die Erleichterung, irgendwann meine Familie wiederzusehen, hat das natürlich alles überwogen.

Der Protest gegen die sozialistischen Diktaturen in den 1980er Jahren war also ein lebensgefährliches Wagnis für jeden Aufständischen. Aus heutiger Sicht war die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten in den 1980er Jahren durch Ereignisse wie Tschernobyl oder das amerikanische Raketenabwehrsystem SDI durchaus ersichtlich geschwächt. Weshalb die UdSSR zu Maßnahmen wie Glasnost und Perestroika mehr oder minder gezwungen war – was sich zur damaligen Zeit aus westlicher Perspektive jedoch nicht erkennen ließ. Die Wende im Jahr 1989 war also ein sehr überraschendes Ereignis. Ines dachte damals die Flucht über Ungarn sei die letzte Möglichkeit in den Westen zu fliehen, bevor der Eiserne Vorhang wieder undurchdringbar würde.

Wie war denn die erste Reise in die DDR nach dem Mauerfall?

Ich konnte erst im Jahr 1990 in die DDR reisen. Ich habe damals ja schon gearbeitet und konnte mir am Anfang nicht so einfach freinehmen. Zudem hatte ich nicht das Geld dazu. Ich fuhr dann also ein paar Monate später mit meinem damaligen Freund nach Erfurt. Am seltsamsten war der Grenzübertritt in die DDR. Damals konnte man noch dem Todesstreifen, die Wachtürme und den Stacheldraht sehen, allerdings ohne Grenzer mit Schießbefehl. Zu Zeiten der deutschen Teilung wusste jeder, dass die Zonengrenze zu überqueren den Tod bedeuten konnte. Und dann einfach so zu passieren – das mutete wirklich seltsam an. Meine Mutter dann wieder zu sehen, nachdem ich mich bereits für immer von ihr verabschiedet hatte, war natürlich ein unbeschreiblich glückliches Gefühl.

Innerhalb weniger Monate fiel der Eiserne Vorhang, und nachdem Europa fast ein halbes Jahrhundert in zwei Welten getrennt war, vereinte sich der Kontinent in den darauffolgenden Jahren. Heute zahlt man an der portugiesischen Atlantikküste mit derselben Währung wie in Estland – damals Teil der Sowjetunion. Und eine der größten Mächte, die die Menschheit je gesehen hatte, fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Das Jahr 1989 war für Europa schicksalhaft wie kein anderes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.